Malfurion stoppte vor dem falschen Vorsprung. Er untersuchte ihn mit seinem Geist. Es gab einige neue Zauber, die sich jedoch recht leicht überwinden ließen.
Er sah nach unten. Brox hatte inzwischen die Höhle erreicht und blickte hinein.
»Wind … vielleicht ein Weg nach draußen, Druide.«
Alles, was ihre Aufenthaltsdauer in den Höhlen verkürzte, freute Malfurion. Er nickte und wandte sich wieder dem falschen Vorsprung zu. Bisher hatten sie Glück gehabt, denn der Lärm der Arbeiten, die in der Haupthöhle stattfanden, hatte die Todesschreie der Trolle übertönt. Doch dieses Glück würde nicht ewig halten …
Er umging die letzten beiden Schutzzauber und zog an dem falschen Fels. Er war sehr schwer, aber Malfurion gelang es, ihn so weit zur Seite zu schieben, dass er durch die entstandene Lücke ins Innere des Verstecks klettern konnte.
»Ich beeile mich!«, rief er.
Brox nickte.
Malfurion hatte im Inneren mit Dunkelheit gerechnet, statt dessen strahlte ihm ein helles Licht entgegen, das seine Augen im ersten Moment reizte, sie dann aber zu erfrischen schien.
Der Nachtelf blinzelte. Die Dämonenscheibe lag unweit entfernt auf einem königlich wirkenden, roten Tuch, das so groß war wie ein Schiffssegel. Die Scheibe war so klein, dass sogar Malfurion sie in eine Hand nehmen konnte. Trotz des Leuchtens, das von ihr ausging, wirkte sie unspektakulär. Doch der Nachtelf, der wusste, welche Macht in der Schöpfung des schwarzen Drachen steckte, behandelte sie mit größtmöglichem Respekt und Vorsicht.
Malfurion beugte sich über die Scheibe. Wie viel Kraft in etwas so Kleinem stecken konnte … In der Klaue des Drachen hatte sie größer gewirkt, dabei wusste er, dass sich ihre Größe nicht verändert hatte.
»Druide!«, hörte er Brox rufen. »Etwas nähert sich. Ich glaube, es ist der Steinerne.«
Malfurion dachte an den monströsen Golem und ermahnte sich zur Eile. Mit einer geschmeidigen Bewegung nahm er die Scheibe von ihrer Ruhestätte.
Erst dann erkannte er seinen furchtbaren Fehler.
Ein Schrei wie von Hunderten sterbenden Drachen erfüllte die Kammer. Malfurion brach zusammen, als die Schreie durch seine Seele hallten. Die Essenz eines jeden Drachens, die in der Dämonenseele steckte, schien nach Freiheit zu rufen, doch in Wirklichkeit handelte es sich bei den Lauten nur um einen letzten Schutzzauber. Er war so subtil angelegt, dass er selbst den feinen Sinnen des Druiden entgangen war.
Die Schreie verebbten, doch ein neuer, schrecklicherer Laut hallte durch die Höhlen.
Der wütende, wahnsinnige Schrei von Deathwing.
9
Der Schmerz bereitete Neltharion Vergnügen, denn jeder Nagel, der in sein geschupptes Fleisch geschlagen wurde, brachte ihn der Unverwundbarkeit einen Schritt näher. Mit dieser Rüstung und der Scheibe konnte er jeder vorstellbaren Bedrohung trotzen …
»Beeilt euch!«, drängte der Drache. »Beeilung!«
Die Goblins hatten die Hammermaschine fast wieder in Position gebracht. Meklo hielt sich daran fest und bereitete die Arbeiter auf den nächsten Schlag vor.
Und dann hallte ein Laut durch die Höhlen, mit dem der Erdwächter niemals gerechnet hätte. Es war ein so entsetzlicher Ton, dass der Drache erschrocken aufsprang und die Maschine mitsamt Meklo und den anderen Goblins umwarf.
»Meine Scheibe! Meine Drachenseele! Jemand versucht sie zu stehlen!« Er brüllte wutentbrannt. Die restlichen Goblins zogen sich hektisch aus der Höhle zurück.
Neltharion wandte sich dem Gang zu. Da die meisten Metallplatten erst unzureichend an seinem Körper befestigt waren, hingen sie von den Nägeln herab und baumelten hin und her. Füße und Schwanz des schwarzen Riesen zertrümmerten Tische und Stühle und schleuderten Formen und Ambosse durch die Höhle. Feuer brachen aus, ein Ofen explodierte. Glühendes Metall spritzte durch die Luft.
Neltharion interessierten Chaos und Zerstörung nicht. Jemand wagte es, etwas zu stehlen, was ihm am Herzen lag. Das würde er nicht zulassen. Er würde sie fangen und töten … langsam und qualvoll dafür büßen lassen. Das war das Mindeste, was sie ihm für eine solche Dreistigkeit schuldeten.
Dass es Eindringlingen gelungen war, seine Fallen und Zauber zu umgehen, versetzte den Erdwächter in unglaubliche Wut. Es musste sich um eine lang geplante Aktion handeln. Das hieß, dass nur ein Drachenclan dahinter stecken konnte. Er würde alle dafür bestrafen, so wie er die Blauen bestraft hatte!
Der Drache brüllte erneut und eilte in den Stollen hinein.
Er kommt!
Krasus’ Warnung war eigentlich überflüssig.
Er kommt!
Die Verbindung brach plötzlich ab. Malfurion befürchtete, dass Krasus etwas zugestoßen war, aber er wusste, dass er sich jetzt nicht um das Schicksal seines Freundes kümmern konnte. Nur die Flucht mit der Dämonenscheibe zählte.
»Druide, komm, beeil dich!«
Er steckte die Scheibe in eine seiner Gürteltaschen. Ihr Licht verschwand, als er die Tasche schloss. Brox wartete bereits ungeduldig am Rand der ersten Trollhöhle auf ihn. Der Nachtelf kletterte ihm schnell, aber vorsichtig entgegen. Brox zog ihn ins Innere der Höhle. Malfurion konnte noch nicht einmal zu Atem kommen, so schnell lenkte der Orc ihn tiefer in den Gang hinein.
»Ist vielleicht ein Weg nach draußen. Die Zugluft könnte dafür sprechen.«
Die Behausung der Trolle war voller Knochen und anderer Überreste. Malfurion wandte seinen Blick davon ab, obwohl er annahm, dass die meisten Teile von Goblins stammten.
Ihre Hoffnungen auf einen schnellen Weg nach draußen zerschlugen sich schon bald. Die beiden anderen Höhlen, die sie entdeckten, führten nirgendwo hin, und der Luftzug, den Brox gespürt hatte, stammte aus schmalen Rissen.
»Es wäre ja auch zu schön gewesen, wenn der Drache einen solchen Ausgang übersehen hätte«, murmelte der Nachtelf. »Wir sitzen in der Falle …«
Draußen hörten sie schwere Schritte, jedoch zu leicht für einen Drachen. Malfurion blickte vorsichtig aus dem Höhleneingang und sah den Steingolem, der durch den Gang an ihnen vorbei ging.
»Deathwing ist bestimmt in der Nähe.« Kein anderer Name passte mehr auf den Drachen, nicht nach dem, was der Druide beobachtet hatte.
»Dann stellen wir uns ihm zum Kampf«, antwortete Brox stoisch. »Er soll wissen, dass wir keine Angst vor ihm haben.«
Die Scheibe … benutze die Scheibe …
Malfurion zuckte zusammen. Die Stimme erstarb so schnell, dass er sie noch nicht einmal zuordnen konnte, aber sie konnte keinem anderen als Krasus gehören. Der Nachtelf zögerte trotzdem, dachte an die dunkle Macht der Dämonenseele. Er hatte gesehen, was sie dem Drachen angetan hatte. Würde sie ihn auf die gleiche Weise verändern?
Donnerndes Gebrüll erschütterte die Höhle. Steine fielen von der Decke; einige waren so groß, dass sie den Schädel des Elfs hätten zertrümmern können. Die Zeit des Planens war vorüber.
»Druide, was hast du vor?«, fragte Brox nervös, als Malfurion die Dämonenseele aus der Tasche zog. Ihr Licht erhellte die Höhle und die Gänge, die dahinter lagen. Wenn der Golem die Eindringlinge bisher nicht bemerkt hatte, so hatten sie sich jetzt verraten. Und auch Deathwing würde sie bald entdecken.
»Das ist unsere einzige Hoffnung.« Malfurion hielt die Scheibe dem größten Riss im Fels entgegen. Er wusste nicht, wie die Dämonenseele funktionierte, also stellte er sich einfach einen Spalt vor, der groß genug war, um ihm und dem Orc die Flucht zu ermöglichen.
Nichts geschah.
Du musst mit ihr verschmelzen … sie muss du werden und du sie …
Die Verbindung brach ab, aber nun wusste der Nachtelf zumindest, was er zu tun hatte. Er konzentrierte sich auf die Scheibe und ließ seine Gedanken in sie eintauchen.
Sofort spürte er ihre unangenehme Aura. Dieses Objekt gehörte nicht in die Welt der Sterblichen. Die Kräfte, die Deathwing in ihr gesammelt hatte, entstammten größtenteils einem anderen, fremden Ort. Der Druide wäre beinahe zurückgewichen, zwang sich dann aber auszuharren.