Malfurion, dem keine passende Antwort eingefallen war, hatte sich vor ihr verbeugt und war auf ihre Schultern geklettert.
Und dann waren sie losgeflogen, um sich der furchtbaren Macht des Dämonenlords und derer, die ihn manipulierten, zu stellen.
Doch für Malfurion war die Lage noch komplizierter. Er hatte keine Angst vor dem eigenen Tod – er würde bereitwillig jedes Opfer bringen, um diese Bedrohung aufzuhalten –, aber noch andere spielten in seinen Gedanken eine Rolle. Irgendwo in der Nähe ihres Ziels, irgendwo in der großen Stadt Zin-Azshari, hoffte er Tyrande und Illidan zu finden.
Er konnte sich immer noch nicht für Tyrandes Entführung vergeben, und er befürchtete, dass auch sie ihm nicht verziehen hatte. Schließlich hatte er zugelassen, dass sie der Brennenden Legion in die Hände fiel – ein entsetzliches Schicksal. Nein, Malfurion erwartete nur Hass und Ablehnung von Tyrande, so sie überhaupt noch lebte.
Was er bei einer Begegnung mit seinem Bruder von sich selbst erwartete, wusste der Druide nicht. Aber es war klar, dass jemand etwas gegen Illidan unternehmen musste.
Irgendetwas …
»Illidan, warte! Hör mir doch zu!«, stieß Tyrande hervor, während er sie hinter sich herzog. Es war nicht ihr erster Ausbruch, aber sie hatte gehofft, dass er dieses Mal vielleicht auf ihre Worte achten würde. »Dies ist nicht dein Weg. Denk doch mal nach! Wenn du die Macht der Legion nutzt, wirst du doch selbst böse.«
»Red keinen Unsinn. Ich werde Kalimdor retten. Ich werde ein Held sein!« Er drehte sich zu ihr um. »Verstehst du das denn nicht? Nichts anderes hat funktioniert. Wir haben mit aller Gewalt gekämpft, aber die Legion ist immer noch stärker. Ich habe schließlich erkannt, dass man die Dämonen nur bekämpfen kann, wenn man sie so sieht, wie sie sich selbst sehen. Deshalb bin ich hierher gekommen und habe so getan, als wolle ich überlaufen. Ich habe ihren Herrn sogar dazu gebracht, mir eines seiner größten Geschenke …«
»Geschenke? Du hältst das, was er mit deinen Augen gemacht hat, für ein Geschenk?«
Malfurions Bruder beugte sich über sie. Er wirkte nicht wie ein Nachtelf, sondern wie ein Dämon. »Wenn du sehen könntest, was ich sehe … dann würdest du verstehen, welche Fähigkeiten er mir verliehen hat.« Mit einem unheimlichen Lächeln hob Illidan den Schal, damit Tyrande die Höhlen sehen konnte, in denen sich einst seine Augen befunden hatten. Es schien ihn nicht zu stören, dass Tyrande jedes Mal, wenn er das tat, vor ihm zurückwich. Er zog den Schal wieder über die Augenhöhlen und fuhr fort: »Ja, dies ist ein großes Geschenk, und es wird sich als eine der mächtigsten Waffen im Kampf gegen die Brennende Legion erweisen.«
Der Zauberer zog sie mit sich. Tyrande hätte zwar versuchen können, sich gegen seinen Griff zu wehren, aber eigentlich wollte sie Illidan gar nicht verlassen. Sie machte sich Sorgen um ihn, Sorgen um sein Herz und um seinen Verstand. Sie musste wenigstens versuchen, den fehlgeleiteten Zauberer zu retten. Elunes Lehren waren nur teilweise die Ursache dafür, denn Tyrande Whisperwind hatte den jungen Illidan, der voller Träume, Hoffnungen und Güte gewesen war, noch nicht aufgegeben.
Sie hoffte nur, dass es einen Teil jenes jungen Illidan noch in dem ehrgeizigen, zynischen Magier gab, der sie durch das dämonenverseuchte Land zerrte.
Sie dachte an die Schreckensgestalten, gegen die sie an diesem Tag gekämpft hatte und sah sich nervös zwischen den Ruinen der Stadt um. Sie erwartete jeden Moment einen Angriff. Mannoroth musste doch längst erkannt haben, dass Illidan ein doppeltes Spiel trieb.
Der schwarz gekleidete Zauberer schien zu erraten, was sie dachte. Vielleicht las er aber auch ihre Gedanken. »Mannoroth kümmert sich nur um die Magie am Brunnen«, sagte er. »Von mir hält er ohnehin nicht viel. Ich habe einen Zauber gewoben, der ihm vorgaukelt, ich sei in mein Quartier zurückgegangen, um zu meditieren.« Er grinste breit. »Abgesehen davon hält die Flucht einer Priesterin der Elune zusammen mit zahlreichen Hochgeborenen den Rest in Atem.«
In einiger Entfernung bliesen die Hörner der Legion erneut zur Jagd. Tyrande hoffte, dass Elune Dath’Remar und die anderen schützen würde. Der Weg, der vor ihnen lag, war lang und voller Gefahren.
Illidan bemerkte nicht, dass sie sich um die Hochgeborenen sorgte. »Ja, die Zeit sollte für meinen Plan reichen.«
»Was ist das für ein Plan?« Tyrande hatte die Frage noch nicht ganz ausgesprochen, da sah sie in einiger Entfernung dunkles Wasser. »Warum gehen wir zum Brunnen?«
»Weil ich vorhabe, Sargeras’ Portal in einen Mahlstrom zu verwandeln, der die Dämonen aus Kalimdor hinaus und zurück in die Unterwelt saugen wird. Ich kehre den Effekt der Dämonenseele einfach um. Denk mal darüber nach. Mit einem solchen Zauber kann ich nicht nur unser Volk, sondern die ganze Welt retten.«
Sein Gesichtsausdruck änderte sich. Er schien auf ihre Zustimmung zu hoffen. Doch als Tyrande dies nicht sofort zeigte, verhärtete sich seine Miene wieder.
»Du glaubst nicht, dass ich es schaffen werde. Wenn ich dein toller Malfurion wäre, würdest du auf und ab hüpfen, applaudieren und meine Klugheit preisen.«
»Darum geht es nicht, Illidan. Ich …«
»Ist ja auch egal.« Suchend blickte er auf die stürmische Landschaft, dann entdeckte er ein herab gefallenes Baumhaus. Die tote Eiche war in einem Winkel zu Boden gestürzt, der ihnen aus dem Inneren des Hauses heraus den Blick auf den Brunnen der Ewigkeit gewähren würde. »Das ist perfekt. Geh da hinein.«
Die Priesterin wurde förmlich in das Haus gestoßen. Vorsichtig bahnte sie sich einen Weg durch die Trümmer. Der Zauberer folgte ihr und trieb sie ungeduldig an.
Tyrande kletterte durch das Gebäude. Ihr Fuß stieß etwas zur Seite.
Einen Schädel.
Sie stand plötzlich inmitten von Gerippen, die einmal fünf oder sechs Nachtelfen gehört hatten. Keines der Skelette war vollständig, und die meisten Knochen wiesen tiefe Krater und Risse auf. Tyrande erschauerte. Sie hoffte, dass die Teufelsbestien nur Tote angenagt hatten, keine hilflosen lebenden Opfer. Doch das konnte ihr niemand mehr sagen.
»Du kannst für sie beten, wenn ich die Welt gerettet habe«, meinte Illidan zynisch. »Das da vorne sieht wie ein guter …«
Eine monströse Gestalt sprang aus den Schatten. Sie warf Malfurions Bruder zu Boden, noch bevor er reagieren konnte. Tyrande schrie und konzentrierte sich auf die Macht der Elune.
Doch sie musste nicht mehr handeln, denn die Teufelsbestie, die auf Illidans Brust kauerte, heulte schmerzerfüllt auf. Der Dämonenhund wand sich, während der Zauberer ruhig aufstand. Mit der rechten Hand hielt er beide Tentakel fest.
»Ich könnte die Magie gebrauchen, die du aufgesogen hast«, sagte er beinahe lässig zu der Kreatur.
Der Nachtelf presste seine linke Handfläche gegen die Saugnäpfe. Die Höllenbestie versuchte jedoch nicht, von diesem Opfer zu trinken. Statt dessen tat sie alles, um sich aus der Umklammerung zu lösen.
Illidans linke Hand begann grün zu leuchten. Tyrande bemerkte, dass es sich um das gleiche Grün handelte, das auch die Dämonen umgab. Malfurions Zwilling atmete ein, und der Dämon zerfiel von hinten nach vorne zu Staub. Er winselte bis zum Letzten, derweil seine Essenz in die Handfläche des Zauberers gesogen wurde.
Während dieses schrecklichen Schauspiels begann sich Illidan zu verändern. Er hatte den Schal zwar wieder über die Augenhöhlen gelegt, aber Tyrande sah trotzdem die wilden Feuer, die darin brannten. Der Zauberer grinste wie betrunken. Grüne Flammen wallten um seinen Körper herum auf, so als wäre er ein Dämon. Sein Körper schwoll an …
Die Flammen fielen so schnell in sich zusammen, wie sie entstanden waren. Der Zauberer nahm wieder sein normales Aussehen an. Er wischte seine Hand ab und trat nach der Asche, die von der Teufelsbestie übrig geblieben war. Dann glättete er sein Haar, lächelte selbstsicher und wandte sich an Tyrande: »Wollen wir weitergehen?«