Die Priesterin verbarg ihr Entsetzen so gut es ihr möglich war. Dies war nicht mehr der Illidan, mit dem sie aufgewachsen war. Er genoss das Blutvergießen ebenso sehr wie die Dämonen. Und dass er das Gift der Legion so begierig in seinen Körper pumpte, widerte Tyrande in einem Maße an, das sie noch nie erlebt hatte.
Mutter Mond, hilf mir bitte. Sag mir, was ich tun soll. Kann ich ihn überhaupt noch retten?
»Hier oben«, befahl Illidan. »Vom Dach aus kann ich mich auf die Mitte des Brunnens konzentrieren.«
Sie ließen die Knochen hinter sich und kletterten auf eine ehemals elegante Dachterrasse. Ein zerbrochenes Geländer, das einmal aus lebendem Holz bestanden hatte, lag am Boden. Eine Statue von Azshara, die erstaunlicherweise heil geblieben war, lag in den toten braunen Blättern des Baums, der früher einmal das ganze Haus gestützt hatte.
Illidan lehnte sich gegen den Mosaikboden. Einige Motive darauf waren noch immer zu erkennen. Tyrande sah Teile von edlen Tieren, eine Flusslandschaft und dichten Wald.
Im Zentrum des Mosaiks befand sich Königin Azsharas wunderschönes Gesicht. Malfurions Bruder legte sein Gesicht gegen ihre vollen, wenn auch in Mitleidenschaft gezogenen Lippen.
»Es ist fast so weit«, sagte er mehr zu sich selbst als zu Tyrande. Aus einer Gürteltasche zog Illidan eine lange, schmale Phiole. Durch das gefärbte Glas konnte man zwar nicht sehen, was sich darin befand, aber Tyrandes Sinne schlugen Alarm.
»Illidan, was ist in der Flasche?«
Sein verschleierter Blick ruhte weiter auf der Phiole. »Nur ein winziger Teil des Brunnens.«
»Was?« Die Worte, die er so leichtfertig dahin gesagt hatte, erschütterten sie zutiefst. Illidan hatte es gewagt, aus der Machtquelle der Nachtelfen zu stehlen? »Aber … niemand darf … es ist verboten … sogar die Hochgeborenen würden niemals …«
Der Zauberer nickte. »Nein, das würden sie wohl nicht. Ist das nicht eine interessante Tatsache? Ich meine, diese Idee muss doch schon jemandem vor mir gekommen sein … vielleicht stammen daher die Legenden über unsere größten Zauberer. Vielleicht haben sie sich für besonders schwere Sprüche heimlich ein wenig Kraft aus dem Brunnen geborgt. Wahrscheinlich taten sie das sogar.« Illidan hob die Schultern. Seine Mimik verhärtete sich erneut. »Aber selbst wenn ich der Erste bin, sehe ich keinen Grund, weshalb ich mich zurückhalten sollte. Die Idee kam mir einfach so. Wenn ich etwas Kraft aus dem Brunnen entlehne, kann ich doch alles erreichen!«
»Aber der Brunnen … selbst ein einziger Tropfen …« Tyrande musste es ihm ausreden. Ein solcher Missbrauch des Brunnens musste in einer Katastrophe enden, genauso wie Illidans Akzeptanz der Dämonenmagie.
»Ja, kannst du dir vorstellen, welche Macht diese Phiole enthält?« Wären Illidans Augen noch in seinen Höhlen gewesen, hätten sie jetzt gierig aufgeleuchtet. »Das sollte reichen, um die Welt zu retten.«
Doch die Priesterin war davon nicht überzeugt. Durch die Lehren der Elune wusste Tyrande weit mehr als Illidan über die Legenden und die Geschichte des Brunnens. »Illidan, wenn du den Brunnen auf diese Weise missbrauchst, könntest du völliges Chaos auslösen. Denk an die Geschichte von Aru-Talis.«
»Aru-Talis ist nur eine Legende.«
»Und ist der gewaltige Krater, der in Generationen wieder zugewachsen ist, auch nur eine Legende?«
Er wischte ihre Warnung beiseite. »Niemand weiß, was mit dieser Stadt geschehen ist, falls sie überhaupt jemals existierte. Erspare mir deine Geschichten über Weisheit und Furcht.«
»Illidan …«
Der Zauberer wurde ärgerlich. »Sei still und zwar sofort.«
Tyrande versuchte etwas zu sagen, aber kein Laut verließ ihren Mund. Sie hustete, aber selbst das geschah lautlos.
Illidan stand auf und betrachtete die Mitte des Brunnens. Der Sturm war stärker geworden und riss an dem toten Baum. Auf den Wassern blitzten unheimliche geisterhafte Lichter.
Die Priesterin schüttelte den Kopf. Illidan hatte zwar großes Vertrauen in seine eigenen Fähigkeiten, trotzdem verstand sie nicht, warum die Dämonen sie noch nicht entdeckt hatten. Mannoroth war doch nicht wirklich so blind, wie Malfurions Zwilling glaubte. Aber außer dem Dämonenhund waren sie nur zwei Teufelswachen begegnet, die Illidan mit einer einzigen Handbewegung abgelenkt hatte.
Illidan berührte den Verschluss der Phiole mit einem Finger. Tyrande bemerkte erst jetzt, dass der Pfropfen aus einer Kristallstatue der Königin bestand. Azshara drehte sich dreimal, so als würde sie für den Zauberer tanzen, dann löste sich der Verschluss. Illidan legte ihn zur Seite.
»Pass auf, Tyrande, pass auf, während ich etwas tue, das dein ach so geliebter Malfurion niemals vollbringen könnte.«
Er schüttete den Inhalt der Phiole über sich.
Aber die Wasser des Brunnens verhielten sich nicht wie normales Wasser, zumindest nicht in diesem Fall. Sie durchnässten ihn nicht, und da, wo sie ihn berührten, leuchtete Malfurions Zwilling für einen Moment tiefschwarz auf. Dann sickerte die dunkle Aura in seinen Körper hinein, erfüllte ihn, wie zuvor schon die gestohlene Energie der Teufelsbestie.
»Bei den Göttern …«, flüsterte er. »Ich hatte geahnt, dass ich irgendetwas fühlen würde, aber das … das ist wundervoll.«
Die Priesterin schüttelte den Kopf, aber Illidan ignorierte ihren stummen Protest. Sie wollte auf ihn zugehen, doch sein Zauber sorgte auch dafür, dass sie sich nicht mehr rühren konnte.
Mutter Mond, dachte sie. Kannst du mir denn nicht helfen?
Aber Elune schien nicht antworten zu wollen, und Tyrande war dazu verdammt, Illidan hilflos zuzusehen.
Er streckte seine Arme dem Brunnen entgegen und begann leise Worte zu murmeln. Die schwarze Aura kehrte zurück und legte sich um seine Hände. Mit jeder Sekunde wurde sie intensiver.
Seine Augenhöhlen glühten wie Feuer unter dem Schal. Der Stoff wirkte angesengt.
Als Illidan seinen Zauber begann, spürte Tyrande mit ihren hoch entwickelten Sinnen, wie sich etwas anderes regte. Die Priesterin wollte Illidan warnen, aber er hatte sich von ihr weggedreht.
Die unsichtbare Präsenz hüllte den nichts ahnenden Zauberer ein. Tyrande erkannte, dass es sich nicht um ein einzelnes Wesen handelte, sondern um gleich drei verschiedene.
Mit diesem Wissen kam auch das Gefühl, dass die drei so dunkel waren – nein, sogar noch dunkler – wie Sargeras. Dessen faulige Gedanken hatte die Priesterin einmal gespürt.
Es überraschte sie, dass Illidan diese Präsenz nicht wahrnahm. Tyrande glaubte, dass es sich dabei um ein bisher unbekanntes Element der Brennenden Legion handelte. Mit angehaltenem Atem wartete sie auf den furchtbaren Angriff, der sich jeden Moment ereignen musste.
Doch statt dessen begannen die drei mysteriösen Wesen Illidans Zauber zu unterstützen und in etwas noch Mächtigeres zu verwandeln. Der Magier lachte, als sich seine Arbeit der Vollendung näherte. Er ahnte nichts von der fremden Unterstützung.
Die Priesterin begriff, dass die fehlenden Angriffe auf dem Weg zum Brunnen nicht allein Illidans Können zu verdanken gewesen waren.
Verzweifelt bat sie Elune um Hilfe. Jemand musste Illidan sagen, dass er getäuscht wurde. Sie ahnte, dass sein großer Zauber in einer Katastrophe enden würde.
Mutter Mond, bitte hilf mir!
Eine wohlige Wärme erfüllte Tyrande. Sie spürte, wie der Bann, den Illidan über sie gelegt hatte, schwand. Sie spürte neue Hoffnung in sich aufsteigen.
»Illidan!«, schrie die Priesterin. »Illidan, pass auf …«
Er drehte sich in ihre Richtung, presste aber im gleichen Moment die Handflächen zusammen. Ein Strahl aus tiefschwarzem Licht schoss daraus hervor und raste dem stürmischen Himmel über dem Brunnen der Ewigkeit entgegen.
Tyrande spürte, wie die drei Wesen verschwanden. Schlimmer noch, sie spürte, wie zufrieden sie waren.
Ihre Warnung kam zu spät.
Sargeras spürte, wie der letzte Widerstand schwand. Das Portal, das er sich ersehnt hatte, bildete sich endlich. Schon bald würde er diese vom Leben verseuchte Welt betreten …