Krasus zuckte zusammen.
»Was ist los?«, fragte Alexstrasza.
Der Magier warf einen Blick auf die weit entfernten Ruinen von Zin-Azshari … und auf den gewaltigen Sturm, der über dem Brunnen der Ewigkeit tobte. Er erschauderte. »Ich befürchte, dass wir weniger Zeit haben als angenommen …«
»Dann müssen wir uns noch mehr beeilen!« Die große rote Drachenkönigin beschleunigte ihren Flügelschlag. Ihre Muskeln verhärteten sich vor Anstrengung.
Krasus blickte über seine Schulter und sah, dass die anderen Drachen ihrem Beispiel folgten. Sie alle spürten, dass die Zeit gegen sie arbeitete. Das hätte nie passieren dürfen. Sein eigenes Volk hatte viel zu lange über etwas diskutiert, das eigentlich offensichtlich hätte sein sollen. Wenn die Drachen doch nur zugehört hätten …
Aber Krasus gab sich auch selbst einen Teil der Schuld, sollte sein Plan fehlschlagen und die Welt – und mit ihr die kommenden Generationen – untergehen. Er war zu lange untätig gewesen, hatte zu lange eine Veränderung der Zeitlinie befürchtet. Und dann hatte er Illidan auch noch mit der Scheibe ziehen lassen. Krasus begriff die furchtbare Macht der Dämonenseele besser als jeder andere. Er hätte diejenigen verfolgen müssen, die sie Malfurion abgenommen hatten. Vielleicht hätten sie die Scheibe sogar zurück erobert.
Doch es war müßig, darüber nachzudenken. Wichtig war nur, dass die Zeitlinie hier nicht endete.
»Wir müssen aufpassen«, sagte er zu Alexstrasza. »Wir werden den Palast zwar umfliegen, aber die Hochgeborenen und Mannoroth dürfen wir trotzdem nicht auf die leichte Schulter nehmen. Sie werden uns aus Azsharas Festung angreifen. Und wir müssen auf jene achten, die ebenfalls von dem Portal und der Scheibe profitieren wollen. Die Drei werden alles versuchen, um die Dämonenseele von uns fernzuhalten.«
»Wenn wir uns opfern müssen, damit Kalimdor gerettet werden kann, werden wir auch diese heilige Pflicht erfüllen«, antwortete sie.
Krasus biss die Zähne zusammen. Die Zukunft, die er kannte, war immer noch möglich, aber ebenso wahrscheinlich war es, dass sie alle hier sterben würden. Seinen eigenen Tod konnte er akzeptieren, aber seine Königin sterben zu sehen …
Nein, das wird sie nicht! Der Magier machte sich bereit. Er würde alles geben, um Alexstrasza vor dem Tod zu bewahren … sogar das eigene Leben.
Die Drachen erreichten die Vororte von Zin-Azshari. Selbst Krasus, der die Massaker der Brennenden Legion bei ihrem ersten Überfall auf die Welt der Sterblichen erlebt hatte, war entsetzt über den Anblick, der sich ihm bot. Die Erinnerungen an den zweiten Krieg, in dem Dalaran und andere Nationen gefallen waren, lebten immer noch in seinem Geist.
Unter den Drachen hoben endlos anmutende Dämonenhorden die Köpfe und brüllten angriffslustig. Die Drachen ignorierten die meisten, denn es handelte sich um Teufelswachen, die nicht fliegen konnten. Die Verdammniswachen erregten jedoch ihre Aufmerksamkeit, denn sie flogen den Drachen in großer Zahl und mit feurigen Lanzen und Schwertern bewaffnet entgegen.
Alexstrasza wartete, bis sich eine große Dämonengruppe zusammengefunden hatte, dann legte sie den Kopf in den Nacken und jagte den Gegnern einen Feuerstoß entgegen.
Die brennenden Verdammniswachen stürzten schreiend in die Tiefe. Mit einem einzigen Atemstoß hatte die rote Drachenkönigin fast hundert Dämonen getötet.
»Mücken …«, murmelte sie wie zu sich selbst. »Etwas anderes sind sie nicht …«
Hinter ihr brüllte ein grüner Drache erschrocken, als er plötzlich von mehreren runden Geschossen getroffen wurde. Krasus wusste, dass es sich nur um Höllenkreaturen handeln konnte. Auch die Schuppen der Drachen waren nicht undurchdringlich. Die Wunden des Grünen waren zwar nur oberflächlich, aber wenn sich die Angriffe wiederholten, würde sich das ändern.
»Wir werden diese widerwärtigen Kreaturen für unsere Zwecke verwenden«, zischte Ysera. Mit geschlossenen Augen konzentrierte sie sich auf die nächste Angriffswelle.
Die Höllenkreaturen wurden plötzlich langsamer. Sie fielen zwar immer noch aus dem Himmel, kamen jedoch weit von ihrem Kurs ab. Krasus berechnete ihre Flugbahn und lächelte grimmig. Im Palast würde man die Zerstörungen, die man über Kalimdor gebracht hatte, nun am eigenen Leib erleben.
Doch die Warnungen, die Krasus wegen den Hochgeborenen und Mannoroth ausgesprochen hatte, sollten sich in den nächsten Momenten als prophetisch erweisen. Denn plötzlich schossen gewaltige schwarze Blitze aus dem stürmischen Himmel. Die Drachen und ihre Reiter stoben auseinander, versuchten der Gefahr zu entgehen.
Nicht allen gelang es. Der Grüne, der die Höllenkreaturen aufgehalten hatte, zögerte einen Moment zu lange. Etliche Blitze trafen ihn. Einer durchschlug seinen linken Flügel, ein anderer verbrannte seinen Schwanz und seine Brust.
Doch die Blitze waren nicht das Schlimmste, denn kaum hatten sie aufgehört, begannen die Wunden des Leviathans zu brennen. Die Feuer breiteten sich über seinen ganzen Körper aus. Der geschwächte grüne Drache war ein leichtes Opfer für die Blitze der Hochgeborenen. Sechs weitere trafen ihn, während er darum kämpfte, in der Luft zu bleiben. Der Drache schrie vor Todesangst.
Dann fiel er vom Himmel.
Sein Körper schlug hart in den Brunnen ein, aber trotz seiner Größe wirkte er in dem gewaltigen Mahlstrom wie ein winziger Kieselstein. Das Wasser kräuselte sich nur ein ganz klein wenig, als er darin versank.
Unheil verheißendes Grollen rollte über das Land.
»Festhalten!«, befahl Alexstrasza und wandte sich ab.
Ein neuer Angriff erreichte die Drachen. Schwarze Blitze schossen aus allen Richtungen auf sie zu, und dieses Mal blieb kein Leviathan verschont. Sogar Alexstrasza zuckte zusammen, als ein Blitz sie an der rechten Hüfte traf.
»Er brennt nicht!«, rief sie. »Er ist furchtbar kalt. Man spürt ihn bis in die Knochen.«
»Ich kümmere mich darum.«
»Nein!« Sie sah ihn an. »Wir müssen unsere Kräfte auf den Angriff konzentrieren.«
Der Aspekt des Lebens wich plötzlich zur Seite und entging haarscharf zwei Blitzen, die sonst nicht nur die Königin, sondern auch Krasus getroffen hätten. Überall in der Luft tanzten Drachen ein makaberes Ballett. Krasus sah sich um und bemerkte erleichtert, dass seine Begleiter sich immer noch festhielten. Er hatte befürchtet, dass die Drachen bei ihren Ausweichmanövern ihre Reiter vergessen würden, aber sie achteten sorgfältig auf jene, die ihnen anvertraut worden waren.
Aber dieser Kampf musste ein Ende finden. Krasus sah zur Mitte des Brunnens. Ja, dort spürte er die Dämonenseele … und er spürte auch, dass das Portal kurz vor seiner Vollendung stand.
»Zum Zentrum!«, rief der Magier. »Uns läuft die Zeit davon.«
Alexstrasza flog sofort in die angegebene Richtung. Krasus beugte sich vor. Der Brunnen der Ewigkeit war zwar sehr groß, aber der Drachenkönigin genügten wenige Flügelschläge, um ans Ziel zu gelangen.
Die Dämonenseele schwebte beinahe friedlich über dem aufgerissenen Maul des Mahlstroms. Eine schwarze Aura umgab sie, schützte sie vor dem entfesselten magischen Sturm.
»Sie wird gesichert sein«, warnte Krasus.
»Ysera und ich werden uns mit Nozdormus erster Gefährtin zusammenschließen.«
Er nickte. »Rhonin und ich werden auf Reaktionen von Sargeras und den Drei achten.«
Die reiterlosen Drachen zogen sich zurück, um sich auf die Angriffe aus Zin-Azshari zu konzentrieren. Die drei weiblichen Drachen umkreisten die Scheibe misstrauisch. Nach den Schrecken, die sie über ihre Clans gebracht hatte, waren sie vorsichtig. Alexstrasza sah ihre Begleiterinnen nacheinander an und nickte dann.
Aus jedem Drachenmaul stach ein goldenes Leuchten.
Die Zauber erfassten die Dämonenseele gleichzeitig und hüllten sie ein. Die dunkle Aura hellte sich durch ihre Macht auf. Die Scheibe begann zu erzittern …
Doch plötzlich wurde die Magie zurückgeworfen. Der Rückstoß war so heftig, dass die Drachen durch die Luft gewirbelt wurden. Verzweifelt hielten sich ihre Reiter fest.