Obwohl Zin-Azshari von dichtem Nebel durchzogen war, konnten sich die monströsen Armeen mühelos orientieren. Der Nebel gehörte zu ihnen wie die Schwerter, Äxte und Lanzen, die sie schwangen. Die grünlichen Schwaden harmonierten mit den Flammen, die jeden Dämon umgaben.
Die Schädel gemeuchelter Nachtelfen verfolgten den Marsch der Brennenden Legion aus leeren Augenhöhlen. Sie waren zu Beginn der Invasion von der Königin, die sie so verehrt hatten, getötet worden. Nur die Hochgeborenen, die Diener der Königin, waren dem Massaker entgangen. Ihre Quartiere lagen hinter hohen Mauern, die verhinderten, dass ihre feinen Sinne von dem Blutvergießen gestört wurden. In ihren farbenfrohen Roben warteten sie auf Azsharas Befehle.
Die Krieger des Palastes hielten immer noch Wache auf den Türmen. In ihren Blicken loderte der gleiche Fanatismus wie er den Dämonen zu eigen war. Kommandiert wurden sie von Captain Varo’then, der trotz seines Ranges die Macht eines Generals hatte. Er vertrat den Willen der Königin, wenn Azshara nicht der Sinn nach Staatsgeschäften stand. Die Soldaten waren ihm treu ergeben. Sie waren bereit, sich zusammen mit den Dämonen gegen ihr eigenes Volk zu stellen. Das Massaker an der Stadtbevölkerung hatten sie ohne eine Reaktion hingenommen. Wie fast alle Bewohner des Palastes waren sie Azshara hörig und dienten dem Herrn der Brennenden Legion.
Sargeras.
Eine Person, die weder der Königin noch dem Dämon diente, hing in einer Zelle tief unter dem Palast und versuchte sich durch Gebete zu ihrer Göttin von ihrer Furcht abzulenken.
Tyrande Whisperwind war in einem Alptraum erwacht. Sie erinnerte sich vage an eine furchtbare Schlacht, in der die Priesterinnen der Elune – Mutter Mond – gekämpft hatten. Tyrande hatte sich am Kopf verletzt, als sie von ihrem tödlich getroffenen Reittier stürzte. Malfurion hatte sie in Sicherheit gebracht. Danach verschwammen die Erinnerungen in ihrem Geist. Sie nahm furchtbare Bilder und Geräusche wahr, sah ziegenähnliche Kreaturen, die mit langen Klauen nach ihr griffen, hörte Malfurions verzweifelte Rufe und dann …
Und dann war die Priesterin hier erwacht.
Aus silbernen Augen sah sie sich zum vielleicht tausendsten Mal in ihrem Kerker um. Sie presste die Lippen zusammen und suchte nach innerer Ruhe. Dann schüttelte sie den Kopf. Ihrer langes bläuliches, von silbrigen Strähnen durchsetztes Haar wurde nicht mehr von einem Helm gehalten und fiel locker über ihre Schultern. Nichts hatte sich seit Tyrandes letzter Untersuchung der Zelle verändert. Wieso hatte sie überhaupt darauf gehofft?
Ihre Handgelenke und Knöchel waren nicht gefesselt, doch das spielte keine Rolle. Eine leuchtende grüne Aura, die ein Stück über dem Steinboden schwebte, hüllte sie von Kopf bis zu den Füßen ein. Darin stand Tyrande, die Arme über den Kopf gestreckt, die Beine fest aneinander gepresst. Die Hohepriesterin hatte alles versucht, aber sie konnte ihre Gliedmaßen nicht bewegen. Die Magie des großen Dämons Archimonde war der ihren in diesem Punkt weit überlegen.
Und doch hatte Archimonde sein höchstes Ziel nicht erreicht. Es war von Anfang an klar gewesen, dass er sie foltern und ihren Willen brechen wollte, damit sie sich ihm und seinem Herrn unterwarf. Dazu standen ihm Mittel wie seine eigene furchtbare Fantasie zur Verfügung sowie die dunklen Künste der Hochgeborenen und der teuflischen Satyrn.
Aber als der Dämon zu seiner Folter ansetzte, bildete sich eine feine Aura aus Mondlicht um den Körper der Priesterin. Weder Archimonde noch seinen Sklaven gelang es, sie zu durchstoßen. Tyrandes Rüstung hätte sie vor seinen Angriffen ebenso wenig schützen können wie der dünne silbrige Umhang, den man ihr vom Leib gerissen hatte – doch die Aura wirkte wie eine meterdicke Mauer. Immer wieder warf sich Archimonde dagegen, immer wieder scheiterte er. Wütend griff der tätowierte Riese schließlich nach einer ahnungslosen Teufelswache und zerfetzte ihr mit einer nachlässigen Bewegung die Kehle.
Von diesem Tag an ließ man Tyrande in Ruhe. Die Dämonen hielten den Sieg über die Armee der Nachtelfen wohl für wichtiger als den über eine einsame Priesterin. Natürlich würde sich das irgendwann ändern, denn die Satyrn, von denen sie durch das magische Portal getragen worden war, hatten ihrem Herrn berichtet, dass sie jenem nahe stand, den Archimonde jagte – Malfurion. Die Dämonen würden Tyrande gegen ihn einsetzen, das war die größte Furcht der Priesterin. Sie wollte nicht die Schuld an Malfurions Untergang tragen.
Sie hörte Schritte in den Gängen des Kerkers. Besorgt hob sie den Kopf, als jemand die Zellentür aufschloss. Ein Nachtelf, den sie fast so sehr fürchtete wie Archimonde, trat ein. Der vernarbte Offizier trug eine grün schimmernde Rüstung, auf deren Brust goldene Sonnenstrahlen leuchteten. Seine eng zusammen stehenden Augen schienen nie zu blinzeln, und wenn er Tyrande ansah, bohrte sich ihr Blick so tief in ihre Seele, dass sie zur Seite schauen musste.
»Sie ist bei Bewusstsein«, sagte Captain Varo’then zu einer Person, die hinter ihm stand.
»Dann lasst mich eintreten«, antwortete eine verführerisch klingende, weibliche Stimme. »Ich will wissen, was Lord Archimonde an dieser Beute findet.«
Varo’then trat mit einer eleganten Verbeugung zur Seite. Tyrande hielt die Luft an, obwohl sie bereits geahnt hatte, wer hinter ihm stand.
Königin Azshara war genau so schön und perfekt, wie es die Geschichtenerzähler behaupteten. Glänzendes silbernes Haar fiel über ihren Rücken. Ihre Augen waren golden, ihre Lider halb geschlossen, ihre Lippen voll und verführerisch. Sie trug eine Seidenrobe, die zu ihrem Haar passte und so durchscheinend war, dass man ihren schlanken Körper darunter mehr als nur erahnen konnte. Juwelenarmbänder umschmiegten ihre Handgelenke, dazu passende Ohrringe hingen von den Ohrläppchen fast bis zu den Schultern herab. In die Tiara, die ihr Haar zurückhielt, hatte man einen Rubin eingearbeitet, der das flackernde Fackellicht blendend hell reflektierte.
Eine zweite Frau befand sich hinter der Königin. Unter normalen Umständen hätte sie als schön gegolten, doch neben Azshara verblasste sie. Die Zofe trug fast die gleiche Kleidung wie ihre Herrin, nur die Qualität war deutlich schlechter. Sie trug die gleiche Frisur, aber ihre silbernen Haare waren gefärbt und wirkten stumpf. Nur ihre Augen hoben sich ab. Sie waren zwar ebenso silbrig wie die der meisten Nachtelfen, aber katzenhaft geschwungen.
»Das ist sie?«, fragte die Königin sichtlich enttäuscht, nachdem sie den ersten Blick auf ihre Gefangene geworfen hatte.
In Azsharas Gegenwart fühlte sich Tyrande noch unbedeutender als die Zofe. Sie hätte sich am liebsten das Blut und den Schmutz vom Gesicht gewischt, doch das ging nicht. Die Priesterin wusste zwar, dass die Königin ihr Volk verraten hatte, spürte aber trotzdem den Wunsch, vor ihr niederzuknien – so gewaltig war das Charisma der Monarchin.
»Du solltet sie nicht unterschätzen, Licht der Lichter«, antwortete der Captain. Der Blick, mit dem er Azshara betrachtete, war voll brennender Sehnsucht. »Sie scheint unter dem Schutz der Elune zu stehen.«
Das schien die Königin nicht zu beeindrucken. Sie kräuselte ihre perfekte Nase, dann fragte sie: »Wer ist schon Elune, verglichen mit dem großen Sargeras?«
»Weise gesprochen, Euer Majestät.«
Azshara trat näher heran. Jede auch noch so kleine Bewegung wirkte berechnet, so als wäre sie eine Schauspielerin vor ihrem Publikum. Tyrande hätte am liebsten vor ihr gekniet.
»Auf eine derbe Art ganz hübsch«, sagte die silberhaarige Königin beiläufig. »Sie wäre vielleicht eine brauchbare Zofe. Was hältst du davon … wie heißt sie noch, Captain?«
»Tyrande«, erklärte Varo’then mit einer knappen Verbeugung.
»Tyrande … wärest du gern meine Zofe? Du könntest im Palast leben und vielleicht einmal eine Vertraute von mir und meinem Herrn werden. Was meinst du?«
Die andere Nachtelfe starrte ihre Königin entsetzt an. Sie versuchte noch nicht einmal, ihre Eifersucht zu verbergen.