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»Hier entlang!« Malfurion ergriff den Arm seines Bruders und führte ihn zurück zu den anderen. Tyrande saß bereits wartend auf Ysera. Sie half zuerst Illidan, dann Malfurion aufzusteigen.

Im gleichen Moment zog ein gewaltiger Schatten über sie hinweg. Malfurion rechnete mit einem schrecklichen Dämon. Als er aufsah, entdeckte zu seiner Erleichterung jedoch Krasus und Alexstrasza.

»Die Dämonenseele!«, rief Krasus. »Hast du sie noch?«

Der Nachtelf zeigte auf eine seiner Gürteltaschen. Schon zu Beginn des Flugs hatte er sie dort verstaut.

Krasus nickte erleichtert. »Dann beeilt euch. Wir müssen schnell fort von hier. Sogar in der Luft wird es nicht sicher sein.«

Malfurion ahnte, dass der Magier weitaus mehr wusste, als er preisgab. Er hielt sich fest, als Ysera sich in den Himmel erhob und am Boden unter ihren Krallen ein weiterer Riss entstand.

»Zin-Azshari ist verloren«, rief der Magier. »Und das ist nur der Anfang.«

Die beiden Drachen schlugen mit ihren Schwingen so schnell sie konnten, aber sie schienen langsamer als sonst zu fliegen. Malfurion blickte zurück. Der Himmel über dem Brunnen existierte nicht mehr. Es gab nur noch eine riesige Wolke, die wie ein Trichter geformt war und alles verschlang. Illidan hatte offenbar die Wahrheit gesprochen. Die Zauber der Dämonen, der Alten Götter und der Verteidiger hatten den Brunnen der Ewigkeit zerrissen.

Hatten er und seine Freunde die Welt gerettet … nur um sie zugleich auch in den Untergang zu fuhren?

Ohrenbetäubender Donner erreichte den Druiden. Er presste die Hände auf die Ohren und wartete, dass der Lärm aufhörte.

»Seht doch!«, schrie Tyrande. Ihre Lippen waren so dicht bei ihm, dass er ihre Stimme hören konnte. »Die Stadt!«

Der Fels unter der Stadt brach auseinander. Eine gewaltige, meilentiefe Schlucht öffnete sich. Die gesamte Hauptstadt rutschte dem Brunnen entgegen.

»Etwas zieht uns zurück!«, stieß Ysera hervor.

Der Brunnen riss die umliegenden Regionen in den Mahlstrom, verschlang Kalimdor buchstäblich. Zin-Azshari schwamm auf den schwarzen Wassern wie eine Insel aus Seetang. Der Palast schien größtenteils unzerstört zu sein, nur der Turm, in dem die Hochgeborenen gearbeitet hatten, neigte sich gefährlich.

Unheimliche Energieblitze schossen durch die Stadt, während sie sich dem Zentrum des Mahlstroms näherte. Im Gegensatz zu den meisten anderen Trümmern, die im Brunnen trieben, wurde die Hauptstadt direkt auf die Mitte zugezogen. Malfurion spürte, wie Tyrande seinen Arm beinahe schmerzhaft fest umklammerte.

»Sie verschwindet …«, flüsterte sie. »Sie – verschwindet wahrhaftig …«

Azsharas Zofen schrien. Vashj hing am Bein der Königin, die dennoch ihren leeren Weinkelch festhielt. Sie weigerte sich, die Zerstörung ihres Palastes hinzunehmen. Sie war Azshara, Licht der Lichter, Herrscherin ihres Volkes. Sie hatte das nicht erlaubt!

Sargeras würde nicht kommen, das wusste Azshara jetzt, obwohl sie es den Dienerinnen verschwieg. Die Zofen durften nicht erfahren, dass sie sich geirrt hatte. Den Missetätern war es irgendwie gelungen, Sargeras an seiner Reise nach Kalimdor – an seiner Reise zu ihr – zu hindern.

Das Donnern wurde lauter. Eine Dunkelheit, die selbst die Blicke einer Nachtelfe nicht durchdringen könnte, hüllte den Palast ein. Nur die wilden Kräfte des Brunnens sorgten jetzt noch für Licht. Schwarzes Wasser ergoss sich in den Palast und spülte zwei ihrer Dienerinnen hinaus. Ihre Schreie verstummten rasch.

Ich bin Azshara!, dachte sie unnachgiebig und mit stoischem Gesichtsausdruck. Ein Gedankenbefehl erschuf einen Schild, der sie und ihre Zofen umgab. Meinen Wünschen darf sich nichts entgegen stellen.

Ihre Macht schützte sie vor dem Wasser, aber die Aufrechterhaltung des Schildes erwies sich als kräftezehrend. Azshara fürchte die Stirn, als kleine Schweißperlen – der erste Schweiß ihres Lebens – auf ihrer Haut erschienen.

Dann flüsterten plötzlich Stimmen in der Dunkelheit, Stimmen, die ihr einen Fluchtweg versprachen.

Es gibt einen Weg … es gibt einen Weg … du wirst mehr sein als je zuvor … als je zuvor … wir können dir helfen … dir helfen …

Die Königin war keine Närrin. Sie wusste, dass der Schild nicht mehr lange halten würde. Dann würden sie und ihre Zofen Opfer des Brunnens werden, und die ruhmreiche Azshara würde für die Welt verloren sein.

Die silbern gekleidete Nachtelfe nickte.

»Aaahhh!« Der Kelch entfiel ihrer Hand. Schmerzen durchtobten ihren Körper. Sie spürte, wie sich ihre Gliedmaßen wanden und drehten. Ihr Rückgrat fühlte sich flüssig an, so als wäre ein Teil davon geschmolzen.

Du wirst mehr sein als jemals zuvor, versprachen die Stimmen – die drei Stimmen. Und wenn die Zeit kommt für das, was wir dir schenken … wirst du uns eine gute Dienerin sein.

Der Schildzauber brach endgültig zusammen. Azshara schrie auf, als die Wasser über sie hinweg brandeten. Hinter ihr schrien auch die anderen – ihre Dienerinnen, die Wachen und die Hochgeborenen, die geblieben waren.

Der Brunnen füllte ihre Lunge.

Aber sie ertrank nicht.

Krasus sah ebenfalls zu, wie die riesige Stadt – das Sinnbild für die hohe Kultur der Nachtelfen – in den Mahlstrom gesogen wurde. Er zitterte nicht nur wegen der Zerstörungen, die sich vor ihm abspielten, sondern auch ob des Wissens, das er über die Zukunft hatte. Der Drachenmagier hatte gehofft, Zin-Azshari würde zerrissen werden, bevor es versank, aber dieser Teil der Geschichte war unverändert geblieben. Die Stadt würde in der Tiefe verschwinden – aber in einigen Jahrhunderten zur Brutstätte neuer Schrecken werden.

Daran ließ sich nichts ändern. Krasus wandte den Blick vom Brunnen und den Zerstörungen ab, die immer weitere Kreise zogen. Gewaltige Teile Kalimdors stürzten in das dunkle Wasser, dessen Wut nicht nachzulassen schien. Bereits jetzt waren jenseits von Zin-Azshari ganze Landstriche verschwunden. Das einzig Gute war, dass es sich um Territorium der Brennenden Legion gehandelt hatte, in dem es ohnehin kein Leben mehr gegeben hatte. Dem Brunnen fielen nur verbrannte Erde und zermalmte Knochen zum Opfer … aber wenn sich das Wasser tiefer in das Land fraß, würde vielleicht gar nichts mehr übrig bleiben.

Nein, das stimmt nicht, dachte Krasus. Das hat die Geschichte gezeigt.

Aber er wusste, dass die Zeitlinie längst instabil geworden war … und dass er dafür einen Großteil der Verantwortung trug.

Jetzt konnte Krasus nur noch beten.

21

Rhonin dankte den Sternen, dass er während seines Fluges zur Nachtelfenarmee nur wenige Spuren von Leben entdeckte. Den beiden Drachen und ihrem erschöpften Reiter wäre es nicht möglich gewesen, jemanden zu evakuieren, der von der Wut des Brunnens bedroht wurde. Die einzigen Nachtelfen, die er entdeckte, waren Hochgeborene, die der Streitmacht entgegen ritten. Zum Glück waren sie schon so weit gekommen, dass er sich keine Sorgen um sie machen musste.

Trotzdem ließ Rhonin den Drachen landen, um sich die Geschichte der Nachtelfen anzuhören. Was er hörte, überraschte ihn. Ihr Anführer, Dath’Remar, erzählte, dass Tyrande versucht hatte, mit ihnen zu fliehen. Der Hochgeborene bedauerte ihren Verlust sichtlich und war erleichtert, als Rhonin, der die Priesterin in Malfurions Gedanken gespürt hatte, ihm erklären konnte, dass sie die Flucht überlebt hatte. Ob sie immer noch lebte, wusste Rhonin natürlich nicht, aber er zweifelte nicht daran, dass Malfurion alles in seiner Macht Stehende tun würde, um dafür zu sorgen.

Rhonin und die Drachen führten die Hochgeborenen zur Streitmacht. Immer wieder mussten sie Handgreiflichkeiten zwischen den beiden Gruppen verhindern. Schließlich stellte Rhonin den bronzefarbenen Drachen zum Schutz der Hochgeborenen ab, während er und der Rote Jarod aufsuchten.