»G’hanir existiert nicht mehr, er starb gemeinsam mit seiner Herrin. Aber dieses Samenkorn hat überlebt. Daraus werden wir einen neuen Baum erschaffen.«
Nozdormu holte mit seiner Klaue aus und grub ein Loch, das perfekt für das Samenkorn geeignet war. Sanft legte es Alexstrasza hinein, dann bedeckte Ysera es mit Erde.
Die drei Aspekte blickten zur Sonne. Dann neigten sie ihre Köpfe dem eingepflanzten Samenkorn entgegen.
»Ich schenke den Nachtelfen Stärke und ein gesundes Leben, so lange dieser Baum steht«, verkündete Alexstrasza.
Eine sanfte rote Aura verließ sie und senkte sich auf die Erde hinab. Gleichzeitig wurde das Sonnenlicht über der Insel heller. Die Strahlen breiteten sich über dem See nach allen Himmelsrichtungen aus. Einige Nachtelfen wichen nervös zurück, aber niemand sagte etwas.
Eine wundervolle Wärme durchströmte Malfurion. Er ergriff Tyrandes Hand. Sie entzog sie ihm nicht, sondern erwiderte seinen Druck.
Bewegung kam in dem kleinen Erdhügel auf. Dreck wurde zur Seite gestoßen, so als versuche eine winzige Kreatur, das Sonnenlicht zu erreichen.
Aus der Saat spross ein kleiner, junger Baum. Er wuchs, bis er eine Höhe von etwa einem Meter erreichte und sich an seinem Stamm Äste gebildet hatten. Dichtes grünes Laub formte seine Krone.
Alexstrasza zog sich zurück. Nozdormu meldete sich leicht zischend zu Wort. »Die Zeit wird wieder auf Seiten der Nachtelfen sssein, denn ich schenke ihnen auch weiterhin die Unsterblichkeit, ssso lange der Baum steht. Mögen sssie die Zeit zum Lernen nutzen …«
Eine goldene Aura verband sich mit dem Sonnenlicht und floss in die Erde.
Der Baum wuchs erneut. Doppelt so groß wie ein Nachtelf war er jetzt. Die Zuschauer starrten mit offenen Mündern auf dieses Schauspiel. Sein Laub wurde immer dichter und grüner. Die Äste wurden dicker und zeugten von der Stärke und der Gesundheit dieses Baums. Die Wurzeln dehnten sich aus und stießen aus der Erde hervor. Unter ihnen entstand ein Hohlraum, der so groß war, dass sich mehrere Nachtelfen hätten hineinsetzen können.
Nozdormu nickte zufrieden und zog sich zurück. Nur Ysera stand jetzt noch dort.
Mit geschlossenen Augen betrachtete der Drache den Baum. Trotz seines rapiden Wachstums überragten ihn die Drachen um Längen.
»Den Nachtelfen, die ihre Hoffnung verloren haben, schenke ich die Fähigkeit des Träumens. Sie sollen träumen und Fantasie haben, denn nur so werden sie sich erholen, wachsen und einen Neuanfang wagen können.«
Es sah aus, als wolle auch sie einen Teil ihrer Aura spenden, doch dann wandte sie sich Malfurion zu. »Und denen, die dem Pfad desjenigen folgen, der bei mir und den meinen einen besonderen Platz einnimmt, schenke ich die Gabe des Smaragdgrünen Traums. Alle Druiden sollen in der Lage sein, ihn zu erreichen. Selbst in tiefem Schlaf werden sie diese Welt betreten können und von ihr lernen. So werden sie imstande sein, Kalimdors Sicherheit und Wohlergehen auch in Zukunft zu bewahren.«
Malfurion schluckte. Zu einer anderen Reaktion war er nicht in der Lage. Die Umstehenden sahen ihn an. Sogar Tyrande drückte stolz seine Hand.
Ysera wandte sich wieder dem Baum zu. Ein grüner Nebel stieg aus ihr auf. Auch ihr Geschenk verband sich mit dem Sonnenlicht und hüllte den Baum ein. Erst dann verschwand der Nebel im Boden.
Die Zuschauer spürten, wie die Erde erbebte. Malfurion trat mit Tyrande ein Stück zurück, und die anderen folgten seinem Beispiel wenig später. Sogar die Drachen wichen zurück, wenn auch nicht so weit wie die kleineren Wesen.
Der Baum wuchs. Höher und höher strebte er dem Himmel entgegen, bis Malfurion glaubte, dass selbst diejenigen, die im Tal geblieben waren, seine ausladende mächtige Krone zu sehen vermochten. Sie war so groß, dass alles in ihrem Schatten hätte liegen müssen, aber irgendwie drang das Sonnenlicht doch bis zum Boden durch und glitzerte auf dem Wasser des Sees.
Die Wurzeln dehnten sich ebenfalls aus, um den riesigen Baum zu stützen. Sie ragten so hoch in die Luft, das man eine ganze Festung unter ihnen hätte erbauen können. Und noch immer wuchs der Baum.
Als er schließlich aufhörte, wirkten selbst die Drachen klein wie Vögel. Sie hätten sich in seiner Krone verstecken können.
»Vor euch steht Nordrassil. Der Weltenbaum ist erschaffen worden«, erklärte der Aspekt des Lebens feierlich. »So lange er steht, so lange die Nachtelfen ihn ehren, wird das Glück auf ihrer Seite sein. Ihr werdet euch verändern, ihr werdet unterschiedlichen Pfaden folgen, aber ihr werdet immer ein Teil Kalimdors sein.«
Krasus stand auf einmal hinter Malfurion. Flüsternd sagte er zu dem Druiden: »Und der Baum, dessen Wurzeln tief in den Boden ragen, wird dafür sorgen, dass sich der See nicht verändert. Die Sonne wird stets ein Teil dieses Brunnens sein. Die schwarzen Wasser wird es hier nicht geben.«
Malfurion hörte es mit großer Erleichterung. Er sah Tyrande an, die seinen Blick mit einem merkwürdigen Gesichtsausdruck erwiderte. Seine Wangen röteten sich. Sie küsste ihn, bevor er verstand, was geschah.
»Was auch immer diese lange Zukunft bringen mag, die man unserem Volk versprochen hat«, flüsterte sie, »ich möchte alles mit dir erleben.«
Blut schoss in seine Wangen. »Und ich mit dir, Tyrande.«
Malfurion erwiderte ihren Kuss, aber in diesem Moment schob sich ein anderes Gesicht in seine Gedanken. Das Volk der Nachtelfen würde das Geschenk der Aspekte feiern und überall davon erzählen, doch ihn interessierten diese Ereignisse plötzlich kaum noch. Er dachte an Illidan und dessen Schicksal.
Tyrande ließ ihn los. Ihr Mund verzog sich. »Ich weiß, was dich plötzlich mit Trauer erfüllt. Was getan werden muss, muss getan werden, Malfurion, aber lass nicht zu, dass seine Verbrechen dein Herz zerstören.«
Er zog Stärke aus ihren Worten. »Das wird nicht geschehen. Das verspreche ich dir.«
Malfurion bemerkte, dass Krasus und Rhonin sich ruhig aus der Runde zurückzogen. Er betrachtete die Drachen und stellte fest, dass auch Nozdormu verschwunden war. Niemand schien es bemerkt zu haben.
Gewiss gab es einen Zusammenhang.
»Malfurion, was ist?«
»Komm mit, Tyrande, während niemand hinsieht.«
Sie fragte nicht, warum. Gemeinsam folgten die beiden Nachtelfen Krasus und dem Zauberer.
Die Stimme hallte durch Krasus’ Kopf. Wir haben esss bereitsss zu lange hinausgezögert. Wir müssen jetzt handeln.
Nozdormu.
»Rhonin …«
Der Mensch nickte. »Ich habe ihn auch gehört.«
Sie zogen sich zurück, während die Nachtelfen über den Baum sprachen. Krasus hätte sich gern noch länger mit Malfurion unterhalten, aber es war wichtig, dass er nach Hause zurückkehrte.
Vor der Zeremonie hatte Nozdormu ihn aufgesucht. Der Aspekt der Zeit hatte allein mit Krasus sprechen wollen. »Wir stehen in deiner Schuld, Korialstrasz.«
Mit »wir« meinte er nicht nur die anderen Aspekte, sondern auch seine Existenzen in den unterschiedlichen Zeitebenen. Er war ein einzigartiges Wesen.
»Ich habe getan, was getan werden musste, ebenso wie Rhonin und Brox.«
»Ich spreche auch gerade mit dem Magier«, sagte der Drache wie beiläufig. Für ihn war es normal, sich gleichzeitig an zwei Orten aufzuhalten. »Ich sssage ihm, wasss ich auch dir sssage. Ich werde dafür sssorgen, dass ihr zurück nach Hause kommt.«
Obwohl Krasus dankbar war, nagte es an ihm, das er Alexstrasza nichts von dem Schicksal erzählen konnte, das sie und die anderen Drachen in der Zukunft erwartete. »Ich bin … danke.«
Der bronzefarbene Riese sah ihn ernst an. »Ich weiß, wasss du vor ihr, vor unsss verbirgst. Esss ist mein Schicksal und mein Fluch, diese Dinge zu wissen, ohne sie ändern zu können. Ich möchte dich um Vergebung bitten für das Leid, dasss ich dir in der Zukunft zufügen werde. Ich muss mein Schicksal erfüllen … ebenso wie Malygos.«
»Malygos!« Krasus dachte auf einmal an die Eier, die er in der winzigen Dimension versteckt hatte. »Nozdormu …«