»Und deshalb sollen wir seine Verbrechen vergeben und die Gefahr, die er darstellt, vergessen?«
Der Druide schüttelte den Kopf. »Nein.« Er sah zuerst seinen Bruder und dann Tyrande an, die mit Maiev und Shandris am Rand des Kreises stand. Sie war bei ihm geblieben, während er über seine Entscheidung nachdachte. Sie unterstützte sie – aber auch das machte es nicht leichter.
»Nein, Jarod.« Malfurion riss sich zusammen. »Nein, ich möchte, dass du ihn ins Gefängnis wirfst. Dort wird er bleiben … zehntausend Jahre lang, sollte es notwendig sein …«
Die anderen Anwesenden begannen überrascht untereinander zu tuscheln. Malfurion schloss die Augen und versuchte seine Ruhe wiederzufinden. Nach allem, was er über Krasus und Rhonin wusste, ahnte er, was dereinst geschehen würde. Er hoffte inständig, dass er die richtige Entscheidung getroffen hatte.
Doch das konnte nur die Zukunft zeigen …
Thrall hatte nichts von den beiden Kriegern gehört, die er ausgesandt hatte, um die Vision des Schamanen zu überprüfen. Vielleicht suchten sie noch, aber der Anführer der Orcs befürchtete das Schlimmste. Keinem guten Herrscher, auch nicht denen, die sein Volk hervorgebracht hatte, gefiel es, loyale Krieger sinnlos in den Tod zu schicken.
Es war Nacht. Die meisten seiner Untertanen schliefen längst. Nur er und die Wachen bewegten sich noch. Auch Thrall hätte schlafen sollen, aber die Sorgen, die er sich seit Brox’ und Gaskais Aufbruch machte, wurden mit jedem Tag größer.
Die Fackeln flackerten und warfen lebendig wirkende Schatten an die Wand. Thrall achtete nicht darauf, doch dann bemerkte er, dass ein dunkler Schemen neben der Tür mehr als nur ein Schatten war.
Der Orc sprang von seinem steinernen Thron auf. »Wer wagt es?«
Doch anstatt eines Meuchelmörders – und davon gab es genug in diesen Tagen – schlurfte ein alter Orc aus der Dunkelheit. Er trug Wolfsfelle und ein Totem, das von einem geschnitzten Drachenkopf geziert wurde.
»Meinen Gruß, Thrall«, sagte der Orc mit unerwartet lauter Stimme. »Gegrüßet seiest du, Retter der Orc!«
»Wer bist du? Du bist nicht Kalthar.« Thrall bezog sich auf den Schamanen.
»Ich bin nur der Überbringer einer Nachricht über den mutigen Krieger Broxigar.«
»Brox? Was ist mit ihm?«
»Der Krieger ist tot … aber er hat viele Feinde in den Untergang geschickt. Er hat noch einmal gegen die Legion gekämpft und so viele erschlagen, dass es einen Tag dauern würde, sie alle zu zählen.«
»Die Legion?« Die schlimmsten Befürchtungen des Orcs bewahrheiteten sich. »Wo? Sag es mir, damit ich meine Krieger entsenden kann!«
Der fast haarlose Alte schüttelte den Kopf und grinste Thrall zahnlos an. »Es gibt keine Dämonen mehr. Broxigar und seine Kameraden haben die Legion besiegt. Dein Krieger stand noch einmal am Pass, selbst als ihr Herr ihm entgegen trat.«
De Orc verbeugte sich respektvoll vor Thrall. »Singe sein Lied, großer Häuptling, denn er gehörte zu denen, die die Welt für dich gerettet haben.«
Der jüngere Orc schwieg einen Moment, dann fragte er: »Ist das alles wirklich wahr?«
»Ja … und ich bringe dir dies, damit ihr einen Helden ehren könnt.« Trotz seines Alters zog der Schamane mühelos eine große zweischneidige Axt hervor. Thrall fragte sich, weshalb er die Waffe nicht schon vorher bemerkt hatte.
»So eine habe ich noch nie gesehen.«
»Diese Waffe wurde speziell für Brox vom allerersten Druiden mit der Magie eines Waldgeistes erschaffen.«
»Ich werde ihr einen Ehrenplatz geben.« Thrall nahm die Axt vorsichtig von der gebeugten Gestalt entgegen. Bewundernd betrachtete er die Waffe. Sie war federleicht und schien komplett aus Holz zu bestehen, aber es handelte sich offensichtlich um eine bemerkenswerte Waffe. »Wo hast du sie her?«
Doch der Schamane antwortete nicht. Er war bereits verschwunden.
Knurrend lief Thrall zum Eingang. Er hielt die Axt instinktiv umklammert, denn er befürchtete, Ziel eines Mordkomplotts zu sein.
Er sprach die beiden Wachen vor seinem Zelt an. »Wo ist er? Wo ist der alte Mann?«
»Hier war niemand«, antwortete der ranghöhere Orc, der vor ihm stand.
Thrall schob sich mit einem wütenden Schnauben an ihm vorbei nach draußen. Der Vollmond erhellte die Umgebung, doch der Herrscher der Orcs konnte nichts entdecken.
Bis er zum Mond hinaufblickte.
Und ein gewaltiges geflügeltes Wesen an der hellen Scheibe vorbei gleiten sah.
Es war ein roter Drache.
Krasus/Korialstrasz wandte sich dem Nest seines Schwarms zu. Rhonin war wieder mit Vereesa vereint, und der Drache hatte dafür gesorgt, dass Brox’ Erbe zu den Orcs gelangt war.
Jetzt konnte auch er endlich nach Hause fliegen … und herausfinden, was die Zukunft für ihn bereit hielt.
Über den Autor
Richard A. Knaak ist ein Bestsellerautor, der viele Romane und rund ein Dutzend Kurzgeschichten geschrieben hat. Dazu gehören The Legend of Huma und Night of Blood für Dragonlance sowie Die Quelle der Ewigkeit und Die Dämonenseele für WarCraft. Er hat die bekannte Dragonrealm-Serie und eigene Geschichten geschrieben. Seine Werke sind in verschiedene Sprachen übersetzt worden, unter anderem ins Russische, Türkische, Bulgarische, Chinesische, Tschechische, Spanische und Deutsche. Außerdem hat er das koreanische Manga Ragnarok adaptiert, das bei Tokyopop erschienen ist. Gegenwärtig schreibt er an Empire of Blood, dem letzten Buch der Dragonlance-Trilogie The Minotaur Wars.