In der Laube stand der Puppenwagen mit dem geliebten Wickelkind, das Wachsgesicht der Puppe mit der abgenommenen Kinderschürze fürsorglich zugedeckt, aber die kleine Pflegemutter war nicht da. Sie war auch nicht im Kreuzgangwinkel bei den Ziegen und Hühnern, nicht in der Kirchenruine, wo sie sich gern auf dem grünen Rasenboden tummelte und Grasblumen suchte. Alles angstvolle Rufen und Suchen war vergeblich.
Da sah sie über die Zauntür hinweg drüben auf der Fahrstraße eine rotglühende Pfingstrose liegen, und jetzt wußte sie, daß das Kind, einen Strauß in der Hand, aus dem Garten gelaufen war. Ohne sich zu besinnen, eilte sie hinaus, die Straße entlang.
Öde, totenstill streckte sich die weiße Weglinie vor ihr hin. Seit die Eisenbahnschienen in ziemlicher Nähe vorüberliefen, war diese Verkehrsader fast ganz unterbunden, nur selten unterbrach Rädergeroll die Waldstille – ein Überfahren des Kindes war mithin nicht zu befürchten. Die Kleine mochte übrigens Heinemanns Beete arg geplündert haben, jedenfalls konnte das Händchen die Blumen auf die Dauer nicht fassen, denn da und dort bezeichnete eine verstreute Nachtviole oder ein Jasminzweig den Weg, den sie genommen hatte.
Sie mußte schon seit geraumer Zeit ausmarschiert sein, wenigstens erschien Klaudine die Strecke schier endlos, die sie bereits zurückgelegt hatte, Angsttränen füllten ihre Augen und das Herz klopfte ihr zum Zerspringen. Zuletzt fand sie den Hut des geliebten Puppenlenchen, und zwar nahe dem Dickicht, das die Fahrstraße begrenzte. Ihr Puls stockte bei dem Gedanken, daß das Kind in den Wald eingedrungen sei und angstvoll umherirre, und schon wollte sie die Stimme zu lautem Rufen erheben, als Kindergeschwätz, in das sich eine männliche Stimme mischte, zu ihr drang. Unwillkürlich preßte sie die Hände gegen die fliegende Brust und horchte. Ja, das war Baron Lothar, der eben sprach, und das Kind war bei ihm und schon nach wenigen eilenden Schritten weiter taten sich die grünen Wände vor ihr auf und sie sah die Sprechenden herankommen.
Baron Lothar führte mit der Linken sein Pferd am Zügel, und auf dem rechten Arm trug er die kleine Entlaufene. Der runde Hut hing ihr im Nacken, und das dichte Blondhaar fiel wirr und tief in die Stirn und an den erhitzten Bäckchen herab. Sie mochte ihre Heldentat bereits schwer, unter heißen Tränen, gebüßt haben, denn sie sah sehr verweint aus, aber ihr Lenchen hatte sie auch in ihrer Herzensangst und Ratlosigkeit nicht preisgegeben, sie hielt die Puppe krampfhaft fest an ihrer Brust.
Sie schrie auf, als sie die Tante so plötzlich auf sich zukommen sah. »Ich wollte der Erdbeerdame Blümchen bringen und das datierte so lange, ach, so lange! Und Lenchen hat ihren neuen Hut verloren, Tante!« rief sie ihr entgegen und löste das linke Ärmchen von ihres Trägers Nacken, als wolle sie schleunigst wieder unter den Schutz der Pflegerin flüchten, aber er hielt sie fest.
»Du bleibst jetzt bei mir, Kind!« gebot er. Sie duckte sich wie ein erschrockenes Vögelchen und sah scheu in das bärtige Antlitz dicht neben dem ihren. Der gebieterische Ton war ihr neu. »Das hast du zu verantworten, kleine Ausreißerin!« fuhr er zu dem Kinde fort, während sein Blick das tieferregte Gesicht, die tränenverschleierten Augen der schönen Hofdame ausdrucksvoll streifte. Sie stand nun vor ihnen und rang vergebens nach Atem und einem Wort des Dankes. »Und nun möchtest du mir auch noch schleunigst den Laufpaß geben und fragst nicht, ob die Arme da dich auch tragen können? Denn laufen kannst du ja absolut nicht mit deinen todmüden Beinchen! Nein, nein, lassen Sie!« wehrte er ab, als Klaudine in der Tat die Arme hob, ihm die Bürde abzunehmen. »Ist's doch kaum, als sei mir eine Grasmücke auf den Arm geflogen! Komm, Kindchen, gib nur deinen Arm wieder her und sieh mich nicht so scheu an – hast dich ja vorhin auch nicht vor meinem Bart gefürchtet! Sieh, wie brav mein Fuchs mit mir geht und sich führen läßt! . . . Und da ist ja wohl auch der unglückliche Hut, um den du so bittere Tränen vergossen hast?«
Die Kleine lachte glückselig auf, als Klaudine das Hütchen auf den Puppenkopf drückte und es wieder festband.
Baron Lothar sah unverwandt auf die zwei schlanken Hände, die in nächster Nähe vor seinen Augen hantierten. Ein breiter schwärzlicher Streifen zog sich um Daumen und Zeigefinger der Rechten.
»›Rußflecken beschimpfen nicht'‹, sagt mein alter Heinemann«, stammelte sie, unter seinen Blicken errötend, und ließ schleunigst die Hände von der gebundenen Schleife sinken.
»Nein, sie beschimpfen nicht. Aber daß sie in der Tat vorhanden sind! Wäre wirklich kein dienstbarer Geist im Eulenhaus zu finden, der Ihnen diese grobe Berührung ersparte?« Ein spöttisch ungläubiges Lächeln zuckte um seine Lippen. »Muß nicht eine Zeit kommen, wo Sie die Erinnerung an diese Flecken dennoch wie einen Makel empfinden werden?« Seine feurigen Augen wichen nicht von ihrem Gesicht.
Sie sah ihn mit stolzer Entrüstung an. »Hat Ihnen das Hofgeflüster auch zugeraunt, daß ich unwahr sei und zur Komödie neige?« fragte sie bitter lächelnd zurück. »Soll ich Ihnen wirklich ausdrücklich die schmerzliche Tatsache bestätigen, daß mein Bruder, wenn auch als ehrlicher Mann – denn, Gott sei Dank, die Gläubiger sind befriedigt! – so doch bettelarm von Haus und Hof gegangen ist? – Wir können uns nicht mehr bedienen lassen, und daß dazu kein besonderer Aufwand von Entsagungen gehört, das weiß ich jetzt. Diese Flecken« – sie sah auf die geschwärzten Finger nieder – »lasse ich auch nur insofern als Makel gelten, als sie Zeugen meiner Ungeschicklichkeit sind. Aber auch das wird ja von Tag zu Tag besser.«
Jetzt lächelte sie wieder mit ihrer sanften Heiterkeit, sah sie doch eine dunkle Glut in sein Gesicht steigen. Sie durfte ihn nicht noch strenger zurechtweisen, der ihren müden Liebling auf dem Arm trug.
»Ich werde mich bald nicht mehr zu schämen brauchen, und gestern abend bei den verlachten Eierkuchen hätte ich getrost die strenge Beate zu Gaste laden dürfen –«
»Ich bin überzeugt und leiste hiermit Abbitte!« unterbrach er sie und neigte in sarkastischer Unterwürfigkeit sein Haupt. »Sie scheinen nicht bloß das Aschenbrödel, Sie sind es in Wirklichkeit. Ein Mann kann sich freilich schwer in eine solche Situation hineindenken, aber einen pikanten Reiz mag es schon haben, augenblicklich in der grauen Puppenhülle zu verschwinden, um später mit strahlenden Flügeln in Sonnenhöhe aufzusteigen.«
Sie preßte die Lippen aufeinander und schwieg, weil sie wußte, daß sie sich vor ihrer eigenen Stimme entsetzen würde, wenn sie auch nur mit einem einzigen Worte ein Thema berührte, das sie tief verschwiegen in der Brust trug, und welches er immer wieder hartnäckig, mit einer Art von Verbissenheit aufnahm.
Sie trat seitwärts, um ihm den Weg freizugeben, und er schritt weiter. Sie gingen an der Schattenseite, unter überhängenden Buchenzweigen hin. Man hörte eine Zeitlang nur die Schritte des kräftig ausschreitenden Mannes und das Hufeklappern des geduldig nebenher gehenden Pferdes, bis die kleine Elisabeth das drückende Schweigen mit einem Schmeichelnamen für den »guten, braven Fuchs« unterbrach.
»Es hat auch nicht die geringste Ähnlichkeit mit seiner brünetten, spanischen Mutter, dies kleine deutsche Blondchen«, sagte Baron Lothar, während er in das reizende Kindergesicht sah. »Sie hat die Altensteiner Augen. Wir haben in Neuhaus das Bild unserer Urgroßmutter, die bekanntlich eine Altensteiner gewesen ist. Ein so wilder Junge ich auch war und so wenig Interesse die steifen Porträts an den Wänden für mich hatten, vor jenem schönen großen Ölbild bin ich doch stets stehen geblieben, wenn unsere Staatszimmer oben einmal ausnahmsweise zugänglich waren. ›Die Lilie des Tales‹ hat sie der damalige Herzog Ulrich genannt. Aber sie ist eine scheue Frau gewesen, die nie wieder zu Hofe gegangen ist, seit ihr Seine Hoheit einmal allzu feurig die Hand geküßt hat.«