Diese Besitzung war auch ein Geroldshof, das Rittergut der Herren von Gerold-Neuhaus.
Vor alten Zeiten waren die liegenden Gründe des weiten Paulinentales und die von da bergauf kletternden mächtigen Waldungen in einer Hand vereint gewesen. Die Gerold von Altenstein hatten unumschränkt geherrscht über Leben und Tod jeglicher Kreatur, die in meilenweiter Runde sich rührte und regte. Später, vor mehr als zweihundert Jahren, hatte ein aus langer blutiger Fehde glücklich heimgekehrter Herr Benno von Gerold um eines nachgeborenen Spätlings seines Stammes willen das Gut Altenstein zwischen diesem und seinem Erstgeborenen geteilt. So war die Linie Gerold- Neuhaus entstanden. Lange Zeit hindurch war sie die weniger begüterte und in geringerem Ansehen stehende verblieben, dann aber hatten verschiedene Male reiche Erbinnen in das Haus geheiratet, und einzelne Träger des Namens hatten sich im Kriege hervorgetan. Ihre Nachkommen rückten, Stufe um Stufe, allmählich in die höchsten Hofämter ein, und schließlich gipfelte dieses Emporkommen in der Vermählung des Jüngsten und Schönsten mit einer Prinzessin des regierenden Hauses.
Fräulein Beate von Gerold hatte mithin recht, so sicher und zuversichtlich in ihrer schönen Equipage heimzufahren, denn sie war die einzige Schwester jenes »Jüngsten und Schönsten« und verwaltete, so jung sie auch noch war, in seiner Abwesenheit als bevollmächtigte Herrin das alte Stammgut. Und das Verwalten, das Wirtschaften verstand sie aus dem Grunde. Selbst Hand und Fuß rühren, den Morgenschlaf bekämpfen und mit hellem, scharfen Blick bis in den dunkelsten Winkel des Hauses hinein scheinbar allgegenwärtig zu sein, das war zu allen Zeiten der Wahlspruch in der Hausfrauenstube zu Neuhaus gewesen. Die Leute im Dorfe sagten, es sei noch gar nicht so lange her, daß das alte Erbspinnrad mit seinem hohl ausgetretenen Trittbrett Tag für Tag im Winter am Stubenfenster geschnurrt und draußen vor dem Hause das selbstgesponnene Leinen zur Sommerzeit auf dem Bleichrasen gelegen habe. Dieser Bienenfleiß und das scharfe Regiment in Milchkeller und Vorratskammern sollten denn auch hauptsächlich den Reichtum zusammengescharrt haben. Das ließen sich die Leute im Dorfe nicht nehmen. Nun, so ganz unfehlbar war dieses Spinnstubenurteil wohl nicht.
Die Altensteiner, von denen, just in diesem Moment, die letzten im Mietwagen das Erbe ihrer Väter auf Nimmerwiederkehr verließen, konnten auch auf eine lange, ununterbrochene Reihe braver, fleißiger Hausmütter zurückblicken, es war auch in Altenstein zu allen Zeiten rüstig geschafft und gesorgt worden, aber das Gut lag tiefer als Neuhaus, und in den letzten Jahrzehnten hatte ein unglücklicher Zufall es wiederholt gefügt, daß gerade über dem Paulinental wolkenbruchartige Gewitter niedergegangen waren. Binnen wenigen Minuten hatten die stürzenden Wassermassen und der überschäumende Fluß die niedriger gelegenen Gründe überflutet, die Ernteaussichten waren vernichtet und der Grund und Boden auf Jahre hinaus verwüstet und verdorben gewesen. Damit hatte bei allem Fleiß das verhängnisvolle »Rückwärts« begonnen.
Und diese Schicksalsschläge waren just in das Leben eines Mannes gefallen, der alle Tugenden seines alten Geschlechts, die Tüchtigkeit des Landwirtes, den Soldatenmut, die Treue und Hingebung für das angestammte Herrscherhaus, und wie sie sonst heißen mögen, diese Tugenden, in sich vereinigte. Der Oberst von Gerold war ein echter Sohn seines Stammes gewesen. Nur auf einem Wege, einem unheimlichen, den alle seine Vorfahren streng gemieden, war er abseits gegangen – die Leidenschaft des Spieles hatte eine furchtbare Gewalt über ihn gehabt. Er hatte ganze Nächte hindurch gespielt und Unsummen geopfert, und wie die Gewitterniederstürze am Grund und Boden gewühlt und seinen Besitz schwer geschädigt hatten, so war jenes Laster verheerend in den alten Familienschrein eingedrungen, der seit Jahrhunderten die klingenden Schätze, die Wertpapiere und Dokumente in sich schloß. Dieses unheilvolle Leben hatte einen jähen Abschluß gefunden durch die Pistolenkugel eines Kameraden, den der Oberst infolge eines Wortwechsels am Spieltisch gefordert hatte. Wie eine ausgeblasene Flamme war es urplötzlich verlöscht und der Welt entrückt worden – »just noch zur rechten Zeit«, hatten die Leute gemeint, aber sie hatten geirrt, es war schon nicht viel mehr zu verlieren gewesen.
Die umflorten Augen der schönen Hofdame streiften das von Studium und Stubenluft blaß angehauchte Gesicht des neben ihr sitzenden Bruders, über welches sich allmählich, gleichsam mit jedem Umrollen der Räder, ein Glanz von stiller Freudigkeit verbreitete. Ja dieser, »der Träumer und Sterngucker«, wie er sich selbst anklagend nannte, der von seinem Aufenthalt in Spanien nach jener furchtbaren Katastrophe schleunigst Heimberufene, hatte retten sollen, was noch zu retten möglich war. Er hatte es nicht gekonnt, um so weniger, als das junge Weib an seiner Seite, die zarte Andalusierin, ihre schönen Augen beharrlich mit stillem Entsetzen von dem Beruf einer deutschen Hausfrau abgewendet hatte. Er hatte schließlich nur noch ihr, der Dahinsiechenden, gelebt und die letzten Geldmittel erschöpft, um ihr gegenüber die Täuschung des Überflusses im Hause aufrecht zu erhalten, bis der »Engel der Erlösung sie von ihrem Schmerzenspfühl hinweggenommen«. Dann hatte er gefaßt das Trümmerwerk des ehemaligen Wohlstandes über sich zusammenbrechen lassen.
Klaudine sah, wie in diesem Augenblick ein tiefes, erleichterndes Aufatmen seine Brust hob. Sie folgte der Richtung seines Blickes – ach ja, dort hob sich das grauschwarze Zinnenviereck des Turmes über die Waldwipfel! Dort lag das Eulenhaus, das schützende Dach, das sie beherbergen sollte! Wie hatte man bei Hofe gelächelt, wenn Klaudine alle ihre Ersparnisse hingab, um das alte Gemäuer, das Vermächtnis ihrer Großmutter, in Bau und Besserung zu erhalten! Nun kam der Segen.
Sie konnte heimgehen von dem heißen Boden des Hofes in die Kühle und Stille unter grünen Bäumen – und da war sie zu Hause! »Zu Hause!« wie das doch erlösend und beruhigend klang nach all dem Zwiespalt, den Aufregungen der letzten Monate! Und der neben ihr saß, er brauchte nicht in eine Mietwohnung zu ziehen, er blieb auf Geroldschem Grund und Boden, wenn auch nur in einem Waldwinkel, dem äußersten Zipfelchen des ehemaligen großen Besitztums. Da hatte einst das Kloster Walpurgiszella gestanden, hart an der Scheide, welche die beiden Geroldshöfe trennte. Das Kloster wurde von einer frommen Ahnenmutter des alten Geschlechts erbaut, aber im Bauernkrieg zum Teil wieder zerstört. Später hatten die Gerolds den von ihnen an die Stifterin geschenkten Baugrund wieder zurückerworben, und der kleinere Teil, das Grundstück mit den Überresten der Baulichkeiten, war denen von Neuhaus zugefallen. Sie hatten den Trümmern nie Beachtung geschenkt, was stürzen wollte, das ließen sie stürzen, und Zeitenlauf und Wetter hatten nagen und abbröckeln dürfen, so viel sie wollten. Nur ein Seitenbau, das ehemalige sogenannte Sprechhaus der Nonnen, vom Feuer ziemlich verschont geblieben, war notdürftig im Stand erhalten worden – man hatte einen Waldhüter hineingesetzt. Im ganzen aber war der entlegene wüste Besitz den Eigentümern mehr eine Last gewesen, und sie hatten sich deshalb nicht lange besonnen, dasselbe später einem Altensteiner, dem Großvater des letzten Gerold-Altenstein, gegen ein ihnen bequemer gelegenes Stück Ackerland zu überlassen. »Eine lächerlich romantische Grille!« hatten sie im stillen gemeint, als ihnen der Altensteiner mitteilte, daß seine Frau sich das malerische Fleckchen Erde wünsche. Und er hatte es dem geliebten Weibe als alleiniges Eigentum verbrieft und besiegelt geschenkt – so war das Eulenhaus an Klaudines Großmama gekommen.