Sie stützte sich fest auf Klaudines Arm und schritt, begleitet von dem Herzog, von Baron Lothar und dem Gefolge, nach allen Seiten freundlich grüßend, der Freitreppe zu, wo die Wagen hielten. Sie übersah dabei die tiefe Verneigung der Prinzessin Helene. – Als Klaudine an der Seite Lothars zurückkehrte, trug sie den Granatstrauß der Herzogin in der Hand.
Sie weilte noch einige Augenblicke unter all den Menschen, die plötzlich kein Auge mehr für sie zu haben schienen, aber sie bemerkte es nicht, sie sehnte sich nach Ruhe. »Gute Nacht, Beate, ich möchte heim.«
»Wie sonderbar die Herzogin war beim Abschied!« sprach Beate, als sie neben Klaudine dem Wagen zuschritt. »Sie sah dich an, als wollte sie bis auf den Grund deiner Seele schauen, und doch, als hätte sie dir etwas abzubitten. Wie lieblich die Art und Weise war, als sie dir den Strauß noch zuletzt aus dem Wagen reichte und: ›Meine liebe Klaudine‹ sagte, als könnte sie dir nicht liebes genug tun.«
»Wir haben uns sehr lieb«, antwortete Klaudine einfach.
Prinzeß Helene tanzte weiter in dieser Nacht. Dann meinte sie plötzlich, die innere Unruhe, die Herzensangst nicht mehr aushaken zu können, warf sich im Dunkel eines Gebüsches auf eine Bank und preßte ihre glühende Wange an das kalte Eisen der Lehne. Frau von Berg stand mit finsterer Miene vor ihr.
»Mein Gott«, sagte sie, »wenn jemand Eure Durchlaucht so sähe!«
»Kommt der Baron?« fragte die Weinende, rasch die Augen trocknend.
Die Berg lächelte.
»O, doch nicht, er spricht mit dem Landrat von Besser über Feuerversicherungen.«
»Haben Sie gesehen, Alice? Die Gerold wurde von der Herzogin beim Abschied noch mit dem Strauß begnadet, das war« – hier lachte die Prinzessin – »das Ergebnis meiner gutgemeinten Warnung.«
Frau von Berg lächelte noch immer.
»Durchlaucht verzeihen, die Herzogin konnte nicht anders! Auf ein bloßes Gerücht hin läßt ein so vornehmer Charakter seine Freundin nicht fallen. Ich habe geglaubt, Sie kennen Ihre Hoheit besser. Sie bestanden ja selbst so dringend auf Beweisen!«
Die Prinzessin fuhr mit beiden Händen an die Ohren, als wollte sie nichts mehr hören.
»Beweise!« wiederholte Frau von Berg noch einmal, »Beweise, Durchlaucht!«
20.
Die Herzogin hatte sich gleich nach der Rückkehr in ihr Schlafgemach zurückgezogen und sich zur Ruhe begeben. Sie hatte ihr kühlendes Himbeerwasser getrunken und lag, die Arme unter dem Haupt, in ihrem stillen Zimmer. Zuweilen hustete sie und ihre Wangen begannen zu glühen.
Es war zuviel gewesen für sie, dieses rauschende Fest, sie hätte im Krankenzimmer bleiben sollen, wo sie hin gehörte – aber es ist doch so hart, so jung noch und schon so gebrechlich! Ob es je besser wird?
Sie griff an ihre linke Seite, sie fühlte da einen sonderbaren dumpfen Schmerz. »Merkwürdig, was kann es nur sein?« Wie lähmende eiskalte Angst kroch es durch ihre Adern und legte sich betäubend auf ihr Denken.
»Unmöglich!« flüsterte sie. Sie wußte plötzlich, woher der dumpfe Schmerz kam. »Unmöglich!« Sie richtete sich energisch im Bette auf und schaute um sich, als wolle sie sich vergewissern, daß sie wach sei, daß kein schwerer Traum sie quäle.
Die Herzogin ergriff einen elfenbeingefaßten Handspiegel und schaute hinein. Zwei tief eingesunkene Augen, ein mageres, gelbliches Gesicht sahen ihr in der mattrosigen Beleuchtung entgegen. Sie ließ den Spiegel auf die Bettdecke fallen und legte sich zurück, ein qualvolles Erschrecken auf ihren Zügen. »O du lieber Gott!« flüsterte sie. Und sie nahm das Bild des Herzogs vom Tischchen neben ihrem Bette, starrte das schöne, stolze Gesicht an und drückte es dann leidenschaftlich an ihre Lippen.
Oh, sie wußte am besten, wie sehr man diesen Mann lieben mußte!
Das Bild an die Brust gedrückt unter ihren gefalteten Händen, blieb sie liegen, die Blicke unverwandt ins Leere gerichtet. Klaudines hinreißende Erscheinung, wie sie dieselbe vor ein paar Stunden gesehen hatte, gaukelte vor ihren Augen, sie sah sie neben dem Herzog bei Tische, beim Tanz unter den Linden – das Mädchen hatte so oft die Farbe gewechselt. – Wie war sie nicht stets befangen, wenn Seine Hoheit ins Zimmer trat! Sie wollte immer so ungern singen, wenn er zugegen war!
»Arme Klaudine! Eine schöne Freundin, die hier an dich denkt, die dich erst mit aller Gewalt herangezogen hat, um dann an dir zu zweifeln!«
Nein, sie zweifelte gar nicht. Unerhörter Klatsch! Die kleine Prinzessin war bisweilen nahezu unbegreiflich!
Die Herzogin lächelte, und dennoch standen plötzlich perlende kalte Schweißtropfen auf ihrer Stirn, und durch das summende Geräusch des aufgeregten Blutes in ihren Ohren war ein heller unbarmherziger Glockenton, die Stimme der Prinzessin, gedrungen – »Hoheit wollen nicht sehen, Hoheit wollen nicht verstehen!« – so bestimmt, so entsetzlich unabweisbar. Die heißen Hände drückten das Bild fester gegen das unruhige, laut klopfende Herz. Ihre Lippen flüsterten: »Lieber tot, als das erleben – laß mich sterben, guter Gott, laß mich sterben!«
Ihr ganzes Eheleben zog vor ihren Augen vorüber. Sie selbst hatte den Altar ihres Glückes verschwenderisch mit Rosen geschmückt. Sollte sie übersehen haben, daß er ohne das ein recht schmuckloser gewesen? Daß sie allein davor gebetet hatte?
Wie kam sie nur darauf? Nein, sie hatte sich nicht hineinphantasiert in dieses Glück, sie besaß es wirklich! Er war doch stets so freundlich, so nachsichtig, so ritterlich gewesen, besonders jetzt, wo sie krank war.
Freundlich? Nachsichtig? Ist das alles, was die Liebe geben kann? Sie stöhnte auf, es schien ihr plötzlich, als sei ein Schleier von ihren Augen gerissen und lasse sie in eine grenzenlose Nüchternheit und Ärmlichkeit schauen.
Aber niemals hatte er ihr doch einen Grund zur Eifersucht gegeben, dieser bürgerlichen Leidenschaft, wie Prinzeß Thekla sagte, die einer Fürstin unwürdig sei.
»Ich kenne diese Leidenschaft nicht«, hatte sie damals geantwortet, »ich habe noch, Gott sei Dank, keine Gelegenheit dazu gehabt.« In diesem Augenblick aber fühlte die regierende Herzogin, die königliche Prinzessin, daß auch sie dieser Leidenschaft verfallen war in furchtbarem Grade, daß auch sie auf dieser Folterbank liegen werde, ohne Rettung.
Wieder blickte sie in den Spiegel, dann schlug sie die Hände vor die Augen. War sie denn blind gewesen? Was konnte sie ihm noch sein, sie, die Kranke, dem Grabe Zuwankende? Nichts, nichts als eine Last.
Aber konnten sie nicht warten, bis sie tot war? Wie lange würde es denn noch dauern? »Ach, nur Schonung, Mitleid so lange, nur so lange! Erbarmt euch!«
Sie sank zurück in einem ohnmächtigen Zustande, unfähig sich zu bewegen und doch fühlend, daß sie wache, daß es entsetzliche Wirklichkeit sei, daß ihr Schicksal die lächelnde Maske abgeworfen hatte, um sein wirkliches Antlitz zu zeigen, ein trostloses, verzweiflungsvolles Antlitz.
Der kalte Schweiß rieselte ihr über die Stirn, mit einer entsetzlichen Anstrengung schnellte sie endlich empor und riß in wilder Verzweiflung an der Klingel. Erschreckt stürzte die Kammerfrau herzu.
»Die Fenster auf!« stöhnte die Herzogin, im Bette sitzend, »ich ersticke!«
Die Kammerfrau eilte zum Fenster, raffte die Vorhänge zurück und da brach der erste funkelnde dunkelglühende Strahl der Morgensonne in das Gemach und traf das geängstigte fieberhaft erregte junge Weib auf seinem Lager.
Sie starrte wie fragend hinaus in diese wunderbar schöne Welt, über die im Morgenwind zitternden Wipfel der Bäume des Parkes hinweg zu den blaugrünen tannenbewaldeten Bergen. Sie atmete die reine, frische Luft, sie hörte das Zwitschern der Vögel im Geäst und sie brach in Tränen aus, in Tränen der Scham über ihre Verzweiflung, über ihr Mißtrauen.
Lange noch lag sie schluchzend und schlief endlich ein. Als sie erwachte, saß Klaudine an ihrem Lager.
Sie ordnete einen Strauß Rosen, die sie von Heinemanns Stöcken erbeten hatte, und war damit so lautlos emsig beschäftigt, daß sie nicht merkte, wie die Augen der Herzogin schon eine ganze Weile auf ihr ruhten. Als sie aufblickte, ging ein froher Zug über ihr sorgenvolles Gesicht.