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»Sie werden uns hoffentlich begleiten, lieber Lothar«, unterbrach Prinzessin Thekla den alten freundlichen Herrn und wandte sich zu Baron Gerold. »Die Erinnerung an unsere teure Verewigte wird Sie ebenfalls dorthin ziehen, wo Sie die kurzen Wochen der Brautzeit miteinander verleben durften.«

Lothar verbeugte sich. »Verzeihung, Durchlaucht ich sehe Plätze, an welche sich Erinnerungen knüpfen, die für mich so traurig sind, nicht gern zum zweitenmal. Aber abgesehen hiervon, ich habe in letzter Zeit bemerkt, daß meine Anwesenheit in Neuhaus mehr als nötig ist; auch für meinen Besitz in Sachsen dürfte es gut sein, wenn das Auge des Herrn einmal wieder sorgend auf ihm ruht.«

Die Prinzeß warf einen verzweiflungsvollen Blick durch das Fenster, der ebensogut den drohenden Wolken da draußen gelten konnte, wie der Starrköpfigkeit ihres lieben Schwiegersohnes.

»Eine Frau, eine Mutter faßt das Angedenken an die Heimgegangene natürlich anders auf«, sagte sie kühl, »weniger heroisch. Verzeihung, Baron!«

»Durchlaucht«, erwiderte er mit Wärme, »es wäre schlimm, würde es anders sein! Die Frauen haben das holde Vorrecht, Kultus zu treiben mit den äußeren Zeichen der Trauer wie der Freude. Sie sind es, welche Blumen streuen zum fröhlichen Fest, sie sind es, die das Grab bekränzen. Welcher Schimmer würde dem Leben fehlen, wenn sie ›heroischer‹ wären!«

Prinzeß Helene ward dunkelrot. Wie kam ihre Mutter auf den Einfall, von hier fortzugehen – jetzt? Die Gabel in ihrer Hand zitterte, sie mußte sie hinlegen.

Komtesse Moorsleben rief: »Um Gott..., sind Durchlaucht nicht wohl?«

»In der Tat – ich bin – mir ist so schwindlig plötzlich«, stammelte die Prinzessin. »Verzeihung, wenn ich –«

Sie hatte sich erhoben und, das Tuch vor die Augen gedrückt, schritt sie hinaus. Sie flog die Treppe förmlich hinauf und in Frau von Bergs Zimmer.

»Alice!« rief sie fassungslos, »Mama spricht vom Abreisen! Es ist schrecklich – es ist alles verloren!«

Frau von Berg, die im hellblauen Morgenkleide im Zimmer auf und ab schritt und ihr Riechsalz zuweilen mit halbgeschlossenen Augen an die Nase führte, hielt inne und vergaß für einen Augenblick ihre Krankenrolle.

»Gerold hat Mama seine Begleitung abgeschlagen«, fuhr die Prinzessin erregt fort, indem sie an ihrem Taschentuch zerrte, daß die feinen Spitzen zerrissen. »Er schwärmt plötzlich von seinen Wäldern, wie ein erbgesessener Bauernsohn, dem man zumutet, nach Amerika auszuwandern. Was soll ich in Ostende? Und noch dazu wenn ich weiß, Sie sind nicht mehr hier, Alice! Ich ertrage es nicht«, beteuerte sie und warf sich auf das Sofa, »ich springe unterwegs aus dem Zuge, ich stürze mich von der Mole in die See – ich –«

Das weiße Gesicht der Prinzessin leuchtete kaum noch kenntlich aus der schnell hereinbrechenden Dunkelheit herüber zu der unbeweglich dastehenden Frau.

»Ach Gott, es ist ja alles verloren!« rief sie, als diese schwieg. »Ich gehe, und sie bleibt!« Und sie begann leidenschaftlich zu weinen, indem sie aufs neue den Kopf in die Kissen barg. »Ich fühle es, Alice, ich fühle es, er liebt sie!« schluchzte sie.

Frau von Berg lächelte. Sie hatte keinen Grund mehr zur Schonung, seit ihrer heutigen Niederlage haßte sie alle diese Menschen.

»Prinzessin, jetzt keine unnötigen Tränen«, sagte sie kühl, »jetzt müssen Sie handeln. Vor allen Dingen, meine ich, müßte der Herzogin bewiesen werden, daß Durchlaucht keineswegs gestern abend ›im Fieber‹ redeten. Alles andere würde sich dann finden.«

Frau von Berg sah im Geiste schon die ganze Gesellschaft in die Luft fliegen, ihretwegen auch dieses kindische unentschlossene Geschöpf.

»Aber ich kann es ihr nicht sagen, ich kann es nicht!« flüsterte die Prinzessin, »ich habe einmal sehen müssen, wie sie ein Reh krankgeschossen hatten, und ebenso blickte sie mich gestern an. Ich kann es nicht! Ich habe die ganze Nacht deshalb nicht geschlafen.«

Frau von Berg zuckte die Achseln. »So gehen Durchlaucht nach Ostende, die Idylle hier wird sich dann ungestört entwickeln.«

Draußen warf der Wirbelsturm, der vor dem Gewitter daherbrauste, Sand und Blätter gegen die Fenster und zerzauste wütend die Äste der Linden, dann fuhr der erste grelle Blitz hernieder und streifte das spöttisch verzogene Gesicht der schönen Frau, die am Fenster lehnte und in das Toben hinausschaute.

»Ich will ihr schreiben«, sagte jetzt die Prinzessin, und nach einer Pause, während welcher ein Donnerschlag das Haus erbeben machte: »Ich bin es ihr schuldig – ja, ja, ich bin es ihr schuldig, Sie haben recht, Alice! Kommen Sie in mein Zimmer, ich fürchte mich.«

Frau von Berg zündete eine Wachskerze auf dem Schreibtisch an und leuchtete der Prinzessin über den Flur nach ihrem Zimmer. Auf dem weißen runden Frauen- gesicht lag ein Zug höchster Befriedigung. »Endlich!« dachte sie und ballte heimlich die Faust. Wie hochmütig sie an ihr vorübergeschritten war, als Baron Gerold sie – Frau von Berg, – maßregelte, sie, deren Vorfahren mindestens so alt waren wie die ihren.

»Was meinen Sie, Alice«, unterbrach die Prinzessin ihre Gedanken, »wie soll ich schreiben?«

Die zierliche Gestalt der kleinen Durchlaucht saß vor dem Rokokoschreibtischchen, vor sich ein wappengeschmücktes Briefblatt. Vorläufig stand nichts weiter darauf als: »Geliebte Elisabeth!«

»Irgend so etwas, Durchlaucht, wie – daß die Sorge um das Glück Ihrer Hoheit Sie veranlasse, die gestern hingeworfene Bemerkung näher zu begründen, Durchlaucht könnten es vor Ihrem Gewissen nicht verantworten und so weiter, und hier sei der Beweis –«

Die Prinzessin wandte den Kopf und schrieb. Draußen tobte das Wetter, und wenn ein Donnerschlag das Haus erschütterte, hielt die schreibende Mädchenhand inne. Zuweilen fuhr sich die Prinzessin ängstlich über die Stirn, dann flog die Feder aufs neue über das Papier, und endlich reichte das Mädchen der bewegungslos inmitten des Zimmers stehenden Frau das Schreiben.

Diese trat zu der kleinen Kerze und las. »Wie immer gefühlvoll«, sagte sie, »rührend! Und nun das Briefchen Seiner Hoheit, Durchlaucht«, und ihre Augen schimmerten wie die einer beutegierigen Katze.

Die Prinzessin zog das Kettchen unter ihrem Kleide hervor, zögernd nahm sie den Brief aus der Kapsel und schloß dann die Hand zur Faust darum. Ein letzter Kampf rang in ihrem Herzen. Frau von Berg lehnte an der Wand neben dem Tische. »Übrigens«, sagte sie langsam, »großartig sah sie aus, gestern, diese Klaudine. Sie haben einen eigenen Reiz, diese blonden Frauen mit den feuchten blauen Augen –« aber sie bemerkte doch, daß die Prinzessin bereits mit zitternden Fingern die Adresse schrieb.

In diesem Augenblick erschien die Komtesse, um ihre junge Gebieterin zu der Mutter zu rufen. Die alte Prinzessin hatte Nervenanfälle und war in jener krankhaften Verfassung, wo sie Sachen zerschlug und Stoffe zerriß. Auch heute tobte sie wie das Wetter draußen. Mit verweinten Augen kam die Prinzessin nach einer halben Stunde zurück in ihr Gemach, sie hatte mit stummem Trotz die ganze Flut der Vorwürfe hingenommen. Auf dem Schreibtisch flackerte noch das Wachslicht im Verlöschen, die hastig hingeworfene Feder lag neben dem Schreibzeug, aber – die kleine Hand fuhr nach der Stirn – der Brief? Wo war der Brief?

Eine zitternde Angst überfiel sie, sie stürzte durch den Flur nach Frau von Bergs Zimmer.

»Alice!« schrie sie in die Dunkelheit hinein, »der Brief! Wo haben Sie den Brief? Ich will ihn noch einmal lesen!«

Keine Antwort.

»Alice!« rief sie heftig und trat mit dem Fuße auf.

Alles blieb still.

Sie lief die Treppe hinunter. Durch die halbgeöffnete Tür der Halle drang wundervoll erfrischende Luft herein, es hatte aufgehört zu regnen. Draußen auf den Steinfliesen glitt ein Schatten auf und ab.

»Alice!« rief die Prinzessin zum drittenmal und eilte hinaus. »Der Brief! Wo ist der Brief?«