Endlich begann die Herzogin zu lachen. »Kennst du das Sprichwort«, fragte sie: »›Alles verstehen, ist alles verzeihen‹« Und ohne die Antwort abzuwarten, wandte sie sich an die Kammerfrau: »Melden Sie Seiner Hoheit, daß ich bereit bin.«
Sie winkte Klaudine und schritt mit ihr durch ihr eigenes Zimmer in den roten Saal. Das reiche Gemach war von Blumenduft erfüllt. Auf einem Seitentisch hatte man die Geschenke geordnet, Spielsachen, Bücher, ein prachtvolles kleines Gewehr.
In diesem Augenblick öffnete ein Diener die Tür, und der Erbprinz trat herein, gefolgt von dem Herzog, der den jüngsten Prinzen auf dem Arme trug und den zweiten an der Hand führte. Jubelnd wollte der Prinz zu seiner Mutter hinüber, aber sein Schritt stockte, ebenso wie der Herzog stehen blieb und auf die Frauengestalt schaute, die dort so seltsam starr und fremd am Tische stand.
Sie sah ihrem Gemahl in die Augen, als wollte sie ihm bis auf den Grund der Seele schauen. Unten begann eben das Ständchen, durch das offene Fenster scholl es feierlich: »Lobe den Herrn, den mächtigen König der Ehren.«
Einen Augenblick schien es, als könne sie die Fassung nicht bewahren, sie schwankte und preßte ihr Gesicht in das Haar des Erbprinzen.
»Mama, gratuliere mir doch!« bat der Knabe ungeduldig, denn er durfte erst nach dem Handkuß zu seinen Gaben.
»Gott segne dich!« flüsterte sie und setzte sich in den Stuhl, den ihr der Herzog jetzt herzurollte.
Klaudine hatte sich zurückgezogen, als dieser eingetreten war, sie mußte es tun, es war Familienfeier im engeren Kreise und niemand hatte sie gebeten zu bleiben. Sie stand im Nebenzimmer am Fenster. Das Jubeln der fürstlichen Kinder vermischte sich mit dem lustigen Marsch, der von unten herauftönte. »Was, um Gottes willen, war es mit der Herzogin?« fragte sie bang.
»Die Großmama! Die Großmama!« scholl es jauchzend. Ein freudiger Schreck durchfuhr das Mädchen, ihre geliebte, verehrte Herrin, die immer Gütige, war gekommen. Es zuckte ihr in den Füßen, sie hätte hinfliegen mögen, um ihr die Hand zu küssen. Und jetzt klang die milde Frauenstimme herüber, aber bebte sie nicht seltsam schmerzlich heute?
»Mein liebes Kind, meine gute Elisabeth, wie geht es dir?«
Lange blieb es still dort drüben. Dann sprach dieselbe schmerzbebende Stimme: »Altenstein scheint dir nicht gutgetan zu haben, Elisabeth. Ich nehme dich mit nach Bayern.«
»Oh, ich bin ganz gesund«, erwiderte jetzt die Herzogin laut, »so gesund! Du glaubst nicht, Mama, was ich ertragen kann!«
Die lärmende Musik draußen verschlang die fernere Unterhaltung.
Klaudine stand wie auf Kohlen. Fragte denn Ihre Hoheit nicht nach ihr? Sie wußte doch, daß sie bei der Herzogin weilte, sie hatte es ihr ja selbst geschrieben. Freilich, eine Antwort hatte sie nicht erhalten, es fiel ihr erst jetzt bedeutungsvoll auf. Jene unerklärliche Bangigkeit von heute früh kam wieder über sie.
Dort innen war es allmählich still geworden, die Herzoginmutter mochte sich entfernt haben, um nach der langen Fahrt zu ruhen. Die Kinder waren in ihre Gemächer zurückgekehrt. Man hörte nur die Schritte Seiner Hoheit, der ungeduldig im Zimmer auf und ab ging.
»Klaudinel« rief die Herzogin. Sie wollte es ertragen lernen, die beiden zusammen zu sehen. Und als die Gerufene erschien, blickte sie von ihr zu dem Herzog hinüber. Wie gut sie sich in der Gewalt hatten! Seine Hoheit streifte dieses schöne Mädchen kaum mit einem Blick.
Sie mußten sich tüchtig eingeübt haben im Verstellen! Ach nein, sie hatten so leichtes Spiel ihr, der vertrauenden gläubigen Törin, gegenüber! Einen Augenblick kam eine brennende Eifersucht über sie, eine Lust, diejenige, die jetzt neben ihr stand, mit einem Schlage zu vernichten.
»Reichen Sie Seiner Hoheit jenes Glas Wein, Klaudine«, sagte sie. »Seine Hoheit vergaß, daß ich es ihm vorhin anbot.«
Klaudine tat, wie ihr geheißen.
Die Herzogin hatte sich währenddem erhoben und war hinausgeschritten.
»Was ist's mit der Herzogin?« fragte der Herzog und runzelte die Stirn, indem er den Wein austrank.
»Hoheit, ich weiß es nicht!« erwiderte Klaudine.
»Gehen Sie der Herzogin nach!« sagte er kurz.
»Ihre Hoheit befinden sich im Schlafzimmer und wollen nicht gestört sein und wünschen, Fräulein von Gerold in einer Stunde im grünen Zimmer zu sehen«, berichtete die Kammerfrau, die eben eintrat.
Klaudine schritt zu einer anderen Tür hinaus und begab sich nach ihrem Zimmer.
Im Schlafgemach der fürstlichen Frau waren die Vorhänge niedergelassen, und in dieser Dämmerung lag die Herzogin auf ihrem Ruhebette. Sie wußte Klaudine mit ihm allein. Jetzt würde er ihr die Hand küssen und sie an sich ziehen, ihr sagen: »Ertrage die Launen, mein Lieb, sie ist eine kranke Frau, ertrage sie meinetwegen!«
Und in beider Augen würde die Hoffnung schimmern auf eine bessere Zukunft, dann wenn da unten im Gewölbe der Schloßkirche ein neuer Sarg –
Sie schauerte nicht bei diesem Gedanken, sie lächelte nur, es ist ja gut, daß man weiß, es kommt ein Ende!
»Es ist so tröstlich, daß es ein Vergessen gibt und Schlaf – wenn es nur nicht so lange mehr dauert, dies Wachen, das man Leben heißt! Wenn nur die Kinder nicht wären!«
Nun, sie würden die kränkelnde, leidende Mutter kaum vermissen und – es sind ja Buben. Wie gut das ist! Keine arme, beklagenswerte Prinzessin!
Ach, und da draußen die Welt! Ob man es dort wußte? Ob man lächelte und flüsterte über die verratene Frau, welche die Geliebte ihres Mannes für eine Freundin hielt? Sie stöhnte schmerzlich auf, der Druck auf der Brust wurde immer schwerer.
Wäre der Tag erst vorüber! Wäre die Nacht da, wo sie allein sein und weinen durfte!
Unten rollten Wagen in den Hof, auf dem Flur erklangen Schritte geschäftiger Diener, Schleppen rauschten, die Gäste verfügten sich nach dem Zimmer vor dem alten Geroldschen Bankettsaal, der in einem Zwischenbau lag, welcher die beiden Flügel des Schlosses verband.
Auch Klaudine, die in ihrem Zimmer regungslos in einem Sessel saß, hörte es. Sie wandte bei jedem Tritt ihr Haupt, und wenn er vorüberging, lief eine flüchtige Röte über ihr Gesicht. Warum befahl die Herzoginmutter sie nicht? Warum kam nicht wenigstens Fräulein von Böhlen, ihre Nachfolgerin bei der alten Hoheit, sie zu begrüßen? Es war doch üblich, daß die Damen sich besuchten. Und bei Frau von Katzenstein hatte die blasse junge Dame mit dem rötlichblonden Haar und den unzähligen Sommersprossen schon vor einer halben Stunde angeklopft.
Vor ihr auf dem Tischchen lag die Uhr. Um dreiviertel auf zwei mußte sie hinübergehen nach dem grünen Zimmer, wo die Herzogin sie erwartete, um dieselbe von dort zu den Gästen zu begleiten. Es war Zeit zum Gehen.
Auf dem Flur traf Klaudine mit Fräulein von Böhlen zusammen, die augenscheinlich in das Zimmer ihrer Gebieterin wollte. Die Damen kannten sich von den Hoffestlichkeiten her, Fräulein von Böhlen war namentlich oft bei der Herzoginmutter im kleinen Kreise gewesen.
Aber Fräulein von Böhlens rotblonder Kopf war vermutlich von einer Art Krampf in den Nacken zurückgezogen, sie schien ihn mit aller Gewalt nicht zu einem Gruß beugen zu können. Klaudine, die in ihrer vornehmen, stillfreundlichen Art ihr die Hand entgegenreichte, stand plötzlich allein. Die cremefarbige Schleppe der jungen Dame war ohne Aufenthalt an ihr vorübergerauscht und verschwand in einer der hohen altersbraunen Flügeltüren am Ende des Ganges.
Gelassen wandte sich Klaudine und trat in das kleine Vorzimmer zu den Gemächern der Herzogin. Frau von Katzenstein machte ein so seltsames Gesicht, so gutmütig, mitleidig und so verlegen.
»Hoheit hat noch kein Lebenszeichen von sich gegeben«, stotterte sie, dann ward sie still, die Herzogin war auf die Schwelle getreten. Ihr erster Blick streifte die Freundin, Klaudine sah vielleicht nie schöner aus, als in dem leichten mädchenhaften Kleid.
Die Herzogin neigte leise den Kopf und schritt durch das Gemach der gegenüberliegenden Tür zu. Man vernahm dort innen die gedämpfte Stimme des Herzogs und das kalte Organ der Prinzeß Thekla.