Die Herzogin war stehen geblieben. »Gib mir deinen Arm, Klaudine«, sagte sie dann fast heiser, und so traten sie nebeneinander unter dem roten Türvorhang hervor, welchen die Diener zurückrafften. In dem Zimmer, wo sich ungefähr zwanzig Personen befanden, herrschte augenblicklich eine lautlose Stille.
War das noch die Herzogin?
Eine kleine zierliche Gestalt, dort hinter den Fächerpalmen halb verborgen, griff wie nach Halt suchend in den Purpursammet der Vorhänge, die zitternden Knie versagten fast den Dienst bei der tiefen Verbeugung. Prinzeß Helene trat auf den Wink der Mutter ein paar Schritt vor, aber ihr dunkler Kopf senkte sich vergeblich, der Kuß der fürstlichen Cousine unterblieb heute.
Man setzte sich nicht. Plaudernd stand man umher. Baron Gerolds Augen hingen an Klaudine. Der Arm der Herzogin lag noch immer in dem des Mädchens. Ihre Augen waren auf die Mitteltür gerichtet, und jetzt ging die Röte der Freude über ihr schönes Gesicht – die Herzoginmutter war eingetreten.
Auf diesem gefurchten gütigen Antlitz, unter dem silberweißen Scheitel, lag heute eine ungewöhnliche Härte. Aber Klaudine sah es nicht. Auf des Mädchens Arm gestützt schritt die Herzogin ihrer Schwiegermutter entgegen und beugte sich auf die Hand der alten Dame nieder, während Klaudine sich tief verneigte. Die Augen des jungen Mädchens sahen erwartungsvoll freudig in das Antlitz der fürstlichen Greisin.
»Ah, Fräulein von Gerold, ich bin erstaunt, Sie hier zu sehen. Sagten Sie mir nicht, daß Sie Ihrem Bruder unentbehrlich seien?«
Die alte Dame hatte die Hände fest übereinandergelegt, bei den letzten Worten sah sie zu Frau von Katzenstein hinüber, als wäre Klaudine nicht anwesend.
Stolz trat Klaudine zurück, und einen einzigen Augenblick trafen ihre Blicke die des Vetters. Atemlos still war es, nur die alte, jetzt so milde Frauenstimme sprach freundlich weiter mit der ›lieben‹ Katzenstein.
Klaudine sah sich nicht um, es war ein lähmendes Entsetzen über sie gekommen, sie wollte sprechen, aber in diesem Augenblick wurden die Türen geöffnet, der Erbprinz, der heute die Ehre hatte, seine Großmama zur Tafel zu geleiten, trat feierlich vor die alte Dame mit seiner kleinen Person, und schon im nächsten Augenblick rauschte die silbergraue Schleppe der durchlauchtigsten Mutter über den Teppich.
»Gestatten Hoheit, daß ich mich zurückziehe«, stammelte Klaudine zu der Herzogin gewendet, »meine heftigen Kopfschmerzen –«
Einen Augenblick regte es sich in dem Herzen der unglücklichen Frau wie Mitleid mit dem Mädchen, dessen geisterhaft blasse Züge eine furchtbare Gemütserregung verrieten.
»Nein!« erwiderte sie flüsternd, denn eben kam Seine Hoheit herüber. »Ich selbst bin krank und kämpfe. Kommen auch Sie –«
Klaudine schritt mit den anderen den Flur hinab und trat neben Lothar hinter den Herrschaften in das Empfangszimmer. Die Hoheiten begrüßten ihre Gäste, der Erbprinz nahm Glückwünsche entgegen, dann öffneten sich die Türen zum Speisesaal. Klaudine fand ihren Platz Lothar gegenüber. Sie hatte keine klare Vorstellung, wie das Essen vorüberging, sie antwortete wohl auf die Fragen ihres Nachbarn, sie aß, sie trank, aber es war wie im Traume. Prinzeß Helene, neben Baron Lothar, sprach auffallend hastig und saß dann wieder stumm, zuweilen schauten ihre schwarzen, funkelnden Augen zu Klaudine hinüber, und wenn die seltsam abwesenden Blicke Klaudines sie trafen, ward sie rot und fiel in ihre gezwungene Lebhaftigkeit zurück.
Und wie es kam, wer mag es ergründen? Es schwebte in der Luft, es perlte in den Sektkelchen, es sagten es sich Blicke und Mienen, ein jeder an der Tafel wußte es: dort oben in den fürstlichen Gemächern war etwas vorgefallen, die Herzoginmutter war gekommen, um dazwischenzufahren. Mit dieser idealen Freundschaft hatte es ein Ende, die schöne Gerold saß dort zum letzten Male.
Es lag wie lähmend auf allen diesen anscheinend so fröhlich plaudernden Menschen, gleich einem Gewitter, dessen Ausbruch jeder herbeisehnt und doch fürchtet.
Endlich, endlich erhob sich die Herzogin. Der Kaffee wurde im anstoßenden Zimmer gereicht.
»Ihre Hoheit hat sich zurückgezogen und wünscht Sie zu sprechen«, flüsterte Frau von Katzenstein Klaudine zu.
Das Mädchen flog die Stufen empor und den Flur entlang. Nur Gewißheit wollte sie – was hatte sie denn getan, verbrochen?
Die Herzogin saß auf ihrem Ruhebett, den Kopf gegen die Lehne gestützt.
»Ich will dich fragen«, begann sie mit verzerrtem Gesicht – dann schrie sie auf. »Jesus – ich – Klaudine!« und ein Blutstrom ergoß sich aus ihrem Munde.
Das junge Mädchen hielt sie in ihren Armen, sie zitterte nicht, sie sprach kein Wort, während die Kammerfrau fortstürzte, um Hilfe zu holen. Der Kopf der Herzogin lag an ihrer Brust, sie war völlig bewußtlos.
In der nächsten Minute erschien der Arzt, der Herzog und die alte Herzogin. Die Kranke wurde aufs Bett getragen. Klaudine mit ihrem vor Schreck entstellten Gesicht, mit ihrem blutbefleckten Kleide stand unbeachtet dort. So oft sie auch die Hand ausstreckte zu helfen, niemand beachtete es, niemand schien es nur zu bemerken.
»Ist irgend etwas geschehen, was Ihre Hoheit beunruhigte?« fragte der Arzt.
Der Herzog wies auf Klaudine. »Fräulein von Gerold, Sie waren zuletzt bei ihr. Wissen Sie –«
»Ich ahne es nicht«, antwortete sie.
In diesem Augenblick traf der Blick der alten Herzogin das Mädchen, streng und feindlich. Sie hielt ihn aus, diesen Blick, sie senkte nicht schuldbewußt das Haupt. »Ich weiß nichts!« wiederholte sie noch einmal.
Dort unten begann wieder das Konzert. Der Herzog verließ hastig das Krankenzimmer, um den Fortgang des Konzerts zu verbieten – da stand er Prinzeß Helene gegenüber, noch atemlos von raschem Lauf. Sie war im Garten gewesen, als man ihr die Schreckenskunde zuraunte. Ihre angstvollen Augen sprachen deutlicher, als Worte es vermochten.
»Hoheit«, sagte der Arzt, der dem Herzog gefolgt war, »es wäre besser, nach H. zu telegraphieren an Professor Thalheim. Ihre Hoheit sind sehr schwach.«
Der Herzog sah ihn groß an, er war bleich geworden.
»Nicht sterben! Um Gottes willen nicht!« flüsterte Prinzeß Helene, »nur das nicht!«
Entsetzt wich sie zurück, als Klaudine mit blutbeflecktem Kleide heraustrat.
In ihrem Zimmer traf Klaudine Beate.
»Herrgott, wie schrecklich!« rief diese, »paß auf, Schatz, nun ist unser Fest schuld daran. «
»Ach nein«, sagte das Mädchen leise beim Ablegen der Kleider.
»Ängstige dich nicht so, Klaudine, du siehst ja entsetzlich aus! Dort unten«, fuhr Beate fort, »stiebt alles auseinander. Ich habe die Kinderfrau mit Leonie und Elisabeth tiefer in den Park hineingeschickt. Die Prinzen sind in ihrem Zimmer, der Erbprinz weint zum Gotterbarmen. Wer hätte das auch gedacht!«
»Willst du so freundlich sein und mich in deinem Wagen mitnehmen?« fragte Klaudine.
Beate, die ihren Hut vor dem Spiegel aufsetzte, wandte sich hastig um. »Du willst doch jetzt nicht fort, Klaudine? Das kannst du nicht!«
»Doch, ich kann, ich will –«
»Ihre Hoheit wünscht Fräulein von Gerold zu sprechen«, flüsterte die Kammerfrau durch die Tür.
»Nun, siehst du, Klaudine, du kannst nicht fort«, sagte Beate und band die blaßgelbe Schleife ihres Hutes.
In der Krankenstube war es still und dunkel. Man hatte alle entfernt, nur im Vorzimmer ging der Herzog mit unhörbaren Schritten auf und ab. Klaudine saß auf einem Stuhl zu Füßen des Lagers, wohin eine Handbewegung der Kranken sie gewiesen hatte. Mit schwachem Flüstern hatte dieselbe sie gebeten, hier zu bleiben, weil sie wichtiges mit ihr zu besprechen habe.
Unten in dem Zimmer des Erbprinzen hockte Prinzeß Helene neben dem schlanken Jungen auf dem Teppich, sie weinte nicht, sie hatte nur die Hände gefaltet, als ob sie bete oder jemand um Verzeihung bitten wolle. Prinzeß Thekla befand sich in den Gemächern der Herzoginmutter. Die alte Dame saß völlig erschüttert in einem Lehnsessel, sie hörte kaum auf das, was Ihre Durchlaucht mit leiser Stimme vortrug. Sie war entsetzt, in welchem Zustande sie ›die Liesel‹ gefunden.