Weiß Gott, man sieht sie ja kaum anders, als mit eigentümlich geröteten Augenlidern, wenn sie auch zehnmal auf meine Frage: »Hast du geweint?« antwortet: »Ich? Weshalb sollte ich denn weinen?«
Joachim sah mich ganz erstaunt an, er hat mir nicht zu widersprechen gewagt, es hätte ihm auch nichts geholfen, denn er ist einer von denen, die man mittels Energie gefügsam machen muß.
Aber verzeihe, ich schreibe so lange von Joachim, und Du willst von Klaudine hören. Du hast mich gefragt, ob sie den Verlobungsring trägt. Es tut Dir gewiß weh, aber lügen kann ich einmal nicht, Lothar – der goldene Reif fehlt an ihrer Hand. Ich fragte sie darum, da wurde sie verlegen und antwortete nicht. Sie hat einen so herben Zug um den Mund, es schmerzt mich, sie anzusehen. Du hättest wohl anders um sie werben sollen, aber freilich, wie die Sachen lagen –
Manchmal denke ich, sie hat vielleicht doch den Herzog – Nein, nein, Lothar, ich will dich nicht ängstigen, ich bin so dumm in solchen Dingen, ich weiß ja nicht, was zwischen euch steht, und ich will mich nicht in euer Geheimnis drängen. Gott gebe, daß sich diese Wolken verziehen! Aber eines weiß ich, wenn sie sich nicht bald verziehen, so werdet ihr sterbensunglücklich. Zuweilen packt es mich, ich möchte dann eintreten und fragen: Liebt ihr euch, oder liebt ihr euch nicht, was? Aber Du hast es ja verboten.
Frau von Katzenstein schrieb neulich an Klaudine, daß Prinzeß Helene bei der Herzogin in Cannes sei, sie soll sich fast aufopfern und mit unermüdlicher Geduld um die Kranke sein. Auch die Herzogin lobt sie in ihren Briefen an Klaudine. Ihre Hoheit schreibt fast täglich, und Klaudine antwortet pünktlich, aber die Korrespondenz scheint ihr keine Freude zu machen. Die hohe Frau erkundigt sich nämlich in jedem Briefe: »Wann ist Deine Hochzeit, Klaudine? Warum schreibst Du nichts von Deinem Bräutigam, von Deinem Glück?« Und zuweilen liegt eine Orangenblüte zwischen den Blättern. Was Klaudine antwortet, weiß ich nicht, vermute aber aus der immer wiederkehrenden Frage, daß sie gar nichts darauf erwidert.
Herrgott, ist das ein langer Brief geworden! Und ich will noch mehr schreiben heute, ich beginne nämlich Joachims Manuskript zu kopieren. Ich habe schon darin geblättert, es ist das zweite Heft der spanischen »Reiseerinnerungen«.
Was willst Du sonst noch wissen, Lothar? Frage nur, ich antworte aufrichtig. Laß Dir die Zeit auf Deinem einsamen Schlosse in Sachsen nicht allzu lang werden. Gott gebe im Befinden der Herzogin einen erfreulichen Fortgang! Die arme Kranke, sie soll so unruhig sein, so große Sehnsucht haben nach ihrer deutschen Heimat und nach den Kindern. Gestern schickte sie Rosen an Klaudine. Vor mir duftet eine der armen weitgereisten Blüten im Wasserglase und schaut verwundert in das Schneetreiben vor den Fenstern. Es wogt und tanzt ganz unermüdlich in der farblosen Dämmerung des beginnenden Abends. Ich lege Dir eine Locke bei von unserer Kleinen.
Prinzeß Thekla hat in der Tat Frau von Berg bei sich, weißt Du das? Und wußtest Du, daß der Herzog Herrn von Palmer nicht mit nach Cannes nahm? Es ist auffallend, er konnte sonst nicht ohne ihn sein.«
Sie adressierte den Brief und stand eben im Begriff, nach dem Kinderzimmer zu gehen – es war die Zeit, wo die Kleine ihr Abendsüppchen verspeiste, – da ward ihr Heinemann gemeldet.
»Nun«, fragte sie, als der Alte eintrat, »was ist bei euch passiert?«
»Gott sei gepriesen, nichts! Aber wir haben ein Telegramm bekommen, das gnädige Fräulein muß noch mit dem Nachtzuge fort. Sie läßt Fräulein von Gerold um einen Schlitten bitten, der sie nach der Bahn fahren kann.«
Beate befahl in aller Seelenruhe das Anspannen und schenkte eigenhändig dem Alten ein Gläschen Branntwein ein.
»Ich werde mitfahren«, sagte sie, »und Sie können hinten aufsitzen.«
»Ja, darum ließ das gnädige Fräulein auch herzlich bitten, ich hatte es vergessen«, murmelte der Alte.
Beate fuhr nach kaum einer Viertelstunde in den schnee- hellen Wald hinaus. Was in aller Welt mochte geschehen sein?
Das Eulenhaus hob sich grau aus den verschneiten Tannen und rötlich schimmerten die erhellten Fenster in die Nacht. Fräulein Lindenmeyer kam ihr im Hausflur entgegen. Sie sah beängstigend feierlich aus und ihre Augen schwammen in Tränen. Sie hatte die Hände gefaltet und flüsterte der erschreckten Beate zu: »Mit der Herzogin geht es zu Ende!«
Beate flog die Treppe empor nach Klaudines Zimmer. Die packte eben eilig ein Köfferchen. Sie wandte ihr ein trübes Antlitz zu.
»Um des Himmels willen«, rief die Eintretende, »du reisest nach Cannes?«
»O nein«, erwiderte Klaudine, »nur nach der Residenz. Die Herzogin will zu Hause sterben.«
Und sie legte die Hände vor das vergrämte Gesicht und weinte.
»Sie bringen sie zurück? Ach Gott! Meine gute Klaudine, weine nicht, liebe, einzige Klaudine, du mußtest ja doch wissen, daß es nur eine Frist sein konnte, dieses scheinbare Besserwerden!«
»Da die Depesche von Frau von Katzenstein, Beate, die Herzogin erwartet, mich in der Residenz zu finden. Morgen abend kommen sie an. Die Depesche ist schon aus Marseille. Ich wollte dich bitten, Beate, sieh zuweilen nach der Kleinen«, fuhr Klaudine fort, »Joachim ist so in der Arbeit und Fräulein Lindenmeyer zuweilen schon recht vergeßlich. Ich hatte gedacht, an Ida zu schreiben, aber die Lindenmeyer erzählte mir, sie habe schon eine Stelle angenommen.«
»Was redest du denn so lange darum?« sagte Beate und half der Cousine den Mantel anziehen, »das ist doch selbstverständlich. Mach dich gut warm, und –«
»Aber laß das Kind hier im Eulenhause«, unterbrach Klaudine sie, »Joachim ist es gewöhnt, daß Elisabeth in der Dämmerung heraufkommt und auf seinen Knien sitzt und sich Märchen erzählen läßt.«
»Versteht sich«, erwiderte Beate. »Aber, was ich sagen wollte, Klaudine«, – sie stockte – »vergiß den Verlobungsring nicht.«
Klaudine wandte sich erschreckt um. »O ja, du hast recht«, sagte sie traurig und suchte den Ring aus einem kleinen Kästchen hervor.
Fräulein Lindenmeyer stand weinend neben Beate im Hausflur, während Klaudine von Joachim Abschied nahm.
»Ach Gott, so jung noch und schon sterben müssen!« schluchzte das alte Fräulein, »von Mann und Kindern fort, und so weit da draußen in der Welt! Gott gebe es, daß sie noch lebend die Heimat erreiche!«
»Gott gebe es!« wiederholte wie unbewußt Klaudine und fuhr neben Beate in die Schneenacht hinaus. Beate ließ es sich nicht nehmen, ihre Cousine bis an den Zug zu geleiten, und als die erleuchtete Wagenreihe in der Nacht verschwunden war, fuhr sie mit ernsten Gedanken heim. Die Schlittenglocken klingelten seltsam feierlich im Walde, es war so lautlos still ringsumher. Sie dachte an den Schnellzug, der durch das Land jagte und die kranke Herzogin mit sich führte. Und sie dachte an Klaudines Weinen. Welch Wiedersehen zwischen den beiden!
Auch Klaudine dachte an ihre fürstliche Freundin, als sie so ganz allein dahinfuhr. Es reist sich schrecklich mit solchem Ziel. Düster stand die Zukunft vor des Mädchens Seele, düsterer als die Nacht da draußen.
Sie hatte zunächst nur eine kleine Strecke zu fahren, dann aber in Wehrburg zwei Stunden Aufenthalt. Da schimmerten schon die Lichter von Wehrburg, der Zug fuhr langsamer und hielt endlich. Sie stieg aus und ging durch die zugige erleuchtete Halle nach dem Wartesaai Sie hob den Schleier nicht, als sie eintrat, und nahm still in einer Ecke Platz.
Nicht weit von ihr saßen flüsternd ein Herr und eine Dame, die letztere gleich ihr unkenntlich durch einen dichten Schleier, nur die Bewegung des Kopfes schien Klaudine bekannt. Von dem Herrn hatte sie bis jetzt nur das stark angegraute, kurz gehaltene Haar gesehen. Er trug einen kostbaren Pelz, sein Hut lag neben ihm. Er beugte sich über ein Kursbuch, und wenn er eine Seite umschlug, so zuckte das Leuchten eines großen Brillanten zu ihr herüber. Es ist ein trauriger Aufenthalt während einer Winternacht in einem schlecht geheizten und schlecht beleuchteten Wartesaal. Unwillkürlich beobachtet man seine Leidensgefährten und überlegt: Was mögen die vorhaben, wohin reisen sie, welche Bande verknüpfen sie untereinander? Ist es ein Ehepaar? Sind es Vater und Tochter?