»Sie sind sehr verbittert, Klaudine!« erwiderte er unwillig und doch klang es wie Mitleid aus seiner Stimme. »Aber Sie haben recht, angesichts der traurigen Tage, denen wir entgegengehen, sollte man nicht von diesen Dingen sprechen. Indessen –«
»Nein, nein! Sprechen Sie nicht davon!« pflichtete sie ihm aufatmend bei.
»Indessen kann ich nicht anders«, fuhr er unerbittlich fort. »Das neueste ist nämlich, daß Ihre Hoheit sich direkt an mich wandte.« Er nahm seine Brieftasche heraus und reichte ihr ein Schreiben. »Es ist besser, Sie lesen selbst.«
Klaudine machte eine abwehrende Bewegung.
»Es ist ein eigenhändiges Schreiben der Herzogin«, betonte er, ohne das Briefblatt zurückzuziehen, »die arme Frau verbittert sich ihre letzten Tage mit Sorgen. Wenn Sie gestatten, Cousine, lese ich es Ihnen vor.«
Und das blasse Mädchengesicht kaum mit dem Blicke streifend, begann er:
»Mein lieber Baron! Diese Zeilen schreibt Ihnen, nach langem innerem Kampf, eine Sterbende und bittet Sie, ihr nach Möglichkeit in einer überaus zarten Angelegenheit zu helfen.
Sagen Sie mir die Wahrheit auf eine Frage, deren Indiskretion Sie mir, die ich bald nicht mehr unter den Lebenden sein werde, verzeihen wollen. Lieben Sie Ihre Cousine? Wenn es nur ein Akt der Klugheit und Großmut war, ihre Hand zu erbitten, dann, Baron, geben Sie dem Mädchen die Freiheit zurück und seien Sie überzeugt, daß Sie dadurch die Zukunft zweier Menschen, die mir über alles teuer sind, glücklich gestalten werden.
Die blauen Augen Klaudines starrten wie verzweifelt auf das kleine Briefblatt. Barmherziger Gott, was sollte das sein? War die Herzogin noch immer in dem alten schrecklichen Wahn, daß ihr Gatte sie liebe oder sie ihn? Oder hatte Prinzeß Helene sich ihr anvertraut, und die Herzogin wollte vermitteln zwischen Lothar und ihr?
»Und Sie?« klang es endlich gebrochen von ihren Lippen.
»Ich bin auf dem Wege, Ihrer Hoheit die Antwort zu bringen, Klaudine. Sie wissen selbst, hoffe ich, daß es von der Herzogin unnötig war, die Wahrheit zu fordern. Ich habe immer offen gehandelt während meines ganzen Lebens, nur einmal beging ich eine Täuschung, weil ich aus Zartgefühl nicht den Mut hatte, zu sprechen, weil ich glaubte, ein einmal gegebenes Wort einlösen zu müssen, und sollte es auf Kosten meines Lebensglückes geschehen. Lassen wir das, es ist begraben. Niemals haben mich seitdem irgendwelche Rücksichten gehindert, der vollsten Überzeugung gemäß zu handeln. Ich werde Ihrer Hoheit kurz erklären, daß –«
Ein leiser Schrei unterbrach ihn, flehend streckte Klaudine ihm die Hand entgegen, und ihre Augen starrten angstvoll in die seinen.
»Schweigen Sie, ich bin nicht die Herzogin!« stammelte sie.
Er hielt inne vor diesem verzweifelten Gebaren. Das Mädchen sprang empor und flüchtete nach der anderen Seite des Abteils.
In diesem Augenblick huschten Lichter vor dem Fenster vorüber, der Zug fuhr langsamer. In der trüben Dämmerung des Schneemorgens erkannte der Baron den Bahnhof der Residenz. Über der Stadt erhob sich grau die alte herzogliche Feste.
Klaudine war ausgestiegen, ehe er hinzuspringen konnte, um ihr behilflich zu sein. Ein fürstlicher Diener erwartete sie und ein Hofwagen. Als sie eilig hineinschlüpfte, stand Lothar am Schlag. In dem grauen, kalten Morgenlicht sah sein Gesicht ganz anders aus als vorher, es schien Klaudine, als wäre er seit den paar Monaten um Jahre gealtert.
»Ich bitte, Cousine, nennen Sie mir die Stunde für eine Unterredung«, forderte er mit höflicher Bestimmtheit.
»Morgen«, erwiderte sie.
»Morgen erst?«
»Ja!« entschied sie kurz.
Er trat, sich verbeugend, zurück, nahm wenige Minuten später in einem Gasthauswagen Platz und fuhr mit dem schwerfälligen Omnibus durch das Südertor, welches eben der fürstliche Wagen mit Klaudine in Windeseile passiert hatte.
»Wie«, dachte er, durch ihr sonderbares Benehmen geängstigt, »wenn die Herzogin dennoch recht hätte, wenn sie den Herzog wirklich liebte? Wenn ich selbst ihr gleichgültig wäre, wirklich gleichgültig?«
Sie war indes den steilen Schloßberg hinaufgefahren und stieg an dem Tor des Flügels ab, den die Herzogin-Mutter bewohnte. Die aufgehende Sonne tauchte eben die verschneiten spitzen Giebeldächer, die Türmchen und Mauern in Purpurglut, und in demselben Augenblick entrollte sich das herzogliche Banner auf dem Hauptturm der Stadt, die unten noch in grauer Dämmerung lag, ein Zeichen, daß die Herrin heimkehre, ja – heimkehre, um zu sterben.
Klaudine fand im zweiten Stockwerk ein paar gemütliche Zimmer zu ihrer Verfügung und ward noch im Laufe des Vormittags zur alten Hoheit beschieden. Die freundliche Dame hatte verweinte Augen, sie saß an dem bekannten Erkerfenster und blickte über die Dächer ihrer guten Stadt hinweg, weit in das verschneite Land hinein. Oh, wie oft hatte Klaudine hier vor ihr gesessen, in dem lauschigen Zimmer mit den steifen kostbaren Möbeln und den vielen Bildern an den Wänden, und hatte sich mit ihrer Gebieterin der herrlichen Aussicht gefreut. In der gegenwärtigen Stunde hatten sie beide kein Auge für diese Schönheiten. Sie sahen dort hinaus, wo der Schienenstrang aus dem Walde hervortrat, auf dem der Zug daherkommen sollte, der die arme Kranke brachte.
Die Herzogin hatte in Cannes einen neuen Blutsturz gehabt. Sie wollte nur noch eines – ihre Kinder wiedersehen und verschiedenes ordnen vor ihrem Sterben. Die kleinen Prinzen waren daheim geblieben, sie sollten der Mutter nicht zuviel Unruhe machen, der Arzt hatte es so gewünscht, obgleich sie dagegen gekämpft: »Herr Doktor, ich sterbe vor Sehnsucht!«
Die alte Hoheit schüttelte nur immer leise das greise Haupt, während sie dies alles erzählte: »Es ist hart, es ist besonders hart für Adalbert, denn sie hatten sich ganz und vollständig gefunden, sie waren auf dem besten Wege, ein glückliches Paar zu werden. Er schreibt so liebevoll von ihr, und nun?« Sie seufzte.
Die Herrschaften hatten sich jeden Empfang verbeten, aber die alte Hoheit wollte doch mit dem Erbprinzen hinunterfahren zum Bahnhof und befahl Klaudine, sie zu begleiten. Gegen zwei Uhr fuhren sie den Schloßberg hinab, ein trüber Novemberhimmel hing über der Stadt und sandte große, dicke Schneeflocken hernieder. Aber trotz des schlechten Wetters standen Hunderte von Menschen in der Straße, die zum Bahnhof führt.
Der Landauer der Herzogin hielt dicht vor der Rampe des fürstlichen Wartezimmers. Die Schutzleute bemühten sich, der Menge zu wehren, die sich stumm herzudrängte. Alle standen denn auch ruhig in weitem Bogen um die Kutschen. Auf dem Bahnsteig befanden sich einige Herren, der Schnellzug, der die herzogliche Familie bringen sollte, war bereits gemeldet. Endlich brausten die Wagen unter die Halle, es entwickelte sich plötzlich ein buntes Treiben auf dem Bahnsteig. Der Herzog war zuerst ausgestiegen, er küßte seiner Mutter die Hand, dann hob er selbst die leidende Gemahlin aus dem Wagen. Aller Augen waren auf ihr bleiches, schmales Gesicht gerichtet, dessen große Augen den Erbprinzen suchten. Sie umarmte die alte Herzogin und küßte ihr Kind mit einem traurigen Lächeln. »Da bin ich wieder«, flüsterte sie matt. Kaum vermochte sie die paar Schritte zum Wartezimmer zu gehen. Der Erbprinz und der Herzog stützten sie. Freundlich müde erwiderte sie die Grüße. Prinzeß Helene und ihre Hofdame, Frau von Katzenstein und die Kammerfrau, die Herren vom Gefolge, alle hasteten durcheinander.
Als sie Klaudine sah, zuckte es in ihrem Gesicht. Sie winkte mit der Hand und deutete auf den Wagen.
Das schöne Mädchen eilte hinüber. »Hoheit«, stammelte sie ergriffen und beugte sich über die Hand der Herzogin.
»Komm, Dina!« flüsterte diese, »fahr mit mir, und du, mein Herz«, wandte sie sich an den Erbprinzen. »Adalbert wird mit Mama fahren.« Während sie durch die schweigende Menge fuhr, sagte sie: »Grüße, mein Kind, grüße sehr freundlich! Die Leute wissen alle, wie krank ich bin.«