»Und die Kelche, aus denen sie den Blütenstaub geholt, haben vor Jahrhunderten geblüht«, ergänzte Herr von Gerold bewegt. »Hätte ich über den Fund zu verfügen, so dürfte mir kein Finger daran rühren.«
»Ei beileibe!« protestierte der alte Gärtner ganz erschrocken.
»Wenn auch kein Griffel irgendwelche Gedankenzeichen auf den Scheiben verewigt hat, wie wir sie auf den Wachstäfelchen der Alten finden, so spricht doch hier ein ganzes Stück eingefangenen Klosterlebens zu uns«, setzte Herr von Gerold hinzu. »Was mag wohl durch die Seelen der Klosterfrauen gegangen sein, während ihre fleißigen Hände das, was die summenden Honigträgerinnen von draußen aus der blühenden, sündhaft schönen Welt über die Mauern getragen, in die Form gebracht haben, wie sie hier vor uns liegt! An was mögen sie gedacht haben –«
»Mit Erlaubnis, gnädiger Herr, da kann ich Ihnen ganz genau sagen – an die vielen Batzen haben sie gedacht, die drin stecken, an sonst nichts!« entgegnete Heinemann in ehrerbietigem, treuherzigem Ton, aber so verschmitzt blinzelnd, daß Herr von Gerold lachen mußte. »In den Klöstern sind sie zu allen Zeiten auf das Zusammenscharren versessen gewesen; man muß das nur in den alten Schriften lesen, da steht's haarklein, was für lange Fingerchen die frommen Jungfern nach allem gemacht haben, was sich irgend hat erwischen lassen. Den letzten Sparpfennig und das letzte Äckerchen haben sie sich für ihr Beten von den armen Seelen verschreiben lassen, die mit Angst und Zähneklappern aus der Welt gegangen sind. Es ist dazumal nicht anders gewesen, als heute noch – der Mensch nimmt's, wo er's kriegen kann – na, dafür ist er eben auch nur eine Erdenkreatur, und der soll noch geboren werden, der die Engelsflügel schon in unser Zeitliches mitbringt.«
Er ließ das Licht seiner Laterne über alle Wände hinspielen. »Was das für ein schöner Keller ist! Da ist auch nicht eine Spur von der Feuersbrunst zu sehen, die doch sonst überall so fürchterlich gehaust hat. Den Keller können wir brauchen, gnädiges Fräulein. Alles andere Unterirdische ist ja total verschüttet, bis auf das klägliche Winkelchen da« – er zeigte nach dem anstoßenden kleinen Kellerraum unter dem Wohnhause – »wo kaum Platz für unsere paar Kartoffeln ist. Und deshalb muß die Pastete 'raus, gnädiges Fräulein, muß so bald wie möglich an die Luft!«
»Das geht nicht, lieber Heinemann«, entschied Klaudine. »Der Fund muß unberührt an Ort und Stelle bleiben, bis die von Neuhaus einen Einblick gehabt haben. Willst du an Lothar schreiben?« wandte sie sich an ihren Bruder.
»Ich?!« rief er mit einer Art komischen Entsetzens aus. »Liebes Herz, alles was du willst – nur das nicht! Du weißt –«
»Ja, ich weiß«, sagte sie lächelnd. »Und ich mag mit dem Herrn Baron auf Neuhaus auch nichts zu schaffen haben. Ich werde die Angelegenheit in Beates Hände legen. Mag sie selbst kommen oder einen Bevollmächtigten schicken.«
Herr von Gerold nickte. »Schaden kann es nicht, wenn die in Neuhaus benachrichtigt werden«, sagte er. »Die Welt ist schlimm, man wird von dem Funde hören, ihn vielleicht verzehnfachen und schließlich von Verheimlichung und dergleichen munkeln. Lothar wird übrigens denken wie ich. Der Wachsschatz der Nonnen ist längst herrenloses Gut geworden und gehört dem, auf dessen Grund und Boden er gefunden wird – notabene, nach römischem und gemeinem Recht nur zur Hälfte, denn der andere Teil steht demjenigen zu, der den Schatz zufällig findet, und das ist unser Heinemann.«
Der alte Gärtner prallte zurück und streckte so erschrocken abwehrend die Hände aus, als solle er geschlagen werden. »Mir altem Kerl? Mir fiele die Hälfte zu von dem, was auf Geroldschem Grund und Boden liegt? I, das wäre ja eine schöne Mode! Was kann ich denn dafür, wenn die wackligen Steine aus der Mauer fallen? Ist da etwa ein Verdienst dabei? Und brauche ich vielleicht den Mammon?« Er schüttelte energisch den Kopf. »Ich habe genug und übergenug zu leben bis an mein seliges Ende – Sorgen kenne ich nicht, und das verdanke ich meiner seligen gnädigen Frau. Nein, damit dürfen Sie mir nicht kommen, gnädiger Herr, damit nicht! ... Nicht ein Bröckchen, nicht so viel, daß man einen Zwirnsfaden damit wichsen kann, nehme ich von dem Zeug da! – Aber ich sage nun auch, gut ist's, gleich vor die rechte Schmiede zu gehen. Mag doch einer herüberkommen und die Nase hineinstecken, da gibt's nachher kein dummes Gerede!«
4.
Am Nachmittag des anderen Tages schritt Klaudine durch den Wald nach dem Neuhäuser Geroldshofe. Sie wollte selbst mit Beate sprechen. Sie hatte den schmalen Fußweg gewählt, der nach verschiedenen Krümmungen auf die breite, in der Nähe des Altensteiner Geroldshofes von der Chaussee abzweigende Fahrstraße mündete.
Es war ein beträchtliches Stück Weges, das sie zurücklegen mußte, aber sie ging auf weichem Moos und Gräsern wie auf Samt, und über ihr dunkelte das festverwachsene, von kräftigem Grün strotzende Geäst der Baumriesen. Sie selbst, der schöne Schwan der Geralds, wie ihr Bruder sie zärtlich nannte, wandelte in ihrem hellen Sommerkleid, mit dem weißen Strohhut über der Stirn, wie ein Lichtschein durch das köstlich kühle, grüne Dämmern, das sie umfing, bis sie die Fahrstraße betrat. Von da ging es ganz allmählich bergauf in lichter werdendem Gehölz, dann an Kleeäckern und Kornbreiten vorüber durch das ganze, weithingebreitete, segentriefende Mustergelände.
Unwillkürlich bückte sie sich, um eine Handvoll Butterblumen zu pflücken, die wie Goldaugen auf dem fetten Wiesengrase leuchteten. Nicht lange, da blinkten auch die Fensterreihen des Gutshauses auf. Es lag auf einer sanften Bodenerhebung. Kurz gehalten, samtartig legte sich der Rasen über die Abhänge.
Klaudine stieg einen der schmalen Wege hinauf, die den Rasen durchschnitten. Sie ging mit gesenkter Stirn und sah erst auf, als sie den Kies unter den Linden an der Westseite des Hauses betrat, und da schrak sie zusammen und hielt einen Moment unangenehm betroffen und unschlüssig den Schritt an. Neuhaus hatte Gäste.
Eine Dame, die offenbar promenierend im Lindenschatten auf und ab gegangen war, trat ihr entgegen, eine stattliche Erscheinung mit sehr weißem Gesicht und südlich flammenden, dunklen Augen. Ihre elegante, grauseidene Schleppe fegte den Kies, und in dem Kamme, der ihre vollen Haarsträhnen hoch auf dem Scheitel zusammenhielt, blitzten bei jeder Wendung farbige Steine auf. Sie trug ein Kind auf dem Arme, ein hageres, gelbes Geschöpfchen in weißem Tragkleid, dessen Spitzenkanten nahezu den Boden streiften.
Klaudines Blick hing wie festgebannt an dem Kindergesichtchen. Sie kannte diese großen, funkelnden Beerenaugen, das gebogene Näschen über den starkgeschwellten Lippen, die niedere Stirn, auf welcher sich die dicken, schwarzen, feuchtglänzenden Haare so eigenwillig aufsträubten – das war der Gesichtstypus der Seitenlinie des herzoglichen Hauses.
»Will haben!« stammelte die Kleine und reichte verlangend nach den Butterblumen in Klaudines Hand.
Die junge Dame wollte ihr freundlich lächelnd den Strauß in das ausgestreckte Händchen drücken, aber die Trägerin des Kindes wich so rasch zurück, als sei die beabsichtigte Berührung ansteckend. »O bitte – nicht! Ich kann das nicht erlauben!« protestierte sie, und ihr Blick streifte hochmütig den einfachen Anzug der jungen Dame. Bei dieser Weigerung erhob das Kind ein ohrzerreißendes Geschrei.
Im gleichen Augenblick bog ein Herr um die Hausecke. »Weshalb schreit denn die Kleine so häßlich?« rief er, rasch näherkommend, mit hörbarem Unwillen.
Klaudine nahm unwillkürlich die kühl ablehnende Haltung an, die ihr am Hofe Schild und Panzer gewesen war.
– Baron Lothar war nach Deutschland zurückgekehrt, und das kleine, eigensinnige Mädchen da war sein Kind.
»Will haben!« wiederholte die Kleine und zeigte nach den Blumen.
Baron Lothar drohte ihr ernst mit dem Finger, worauf sie scheu verstummte. Eine jähe Glut war in sein bärtiges Gesicht geschossen, und aus seinen Augen fuhr ein Blitz über die ernst-ruhige Erscheinung der ehemaligen Hofdame. Nichtsdestoweniger verbeugte er sich tief und ritterlich vor ihr.