Poirot hob die Hand.
«Wenn die Tassen bisher nicht abgeräumt wurden, können sie auch noch ein bisschen länger da rumstehen, Dorcas. Ich möchte sie gern untersuchen.»
«Sehr wohl, Sir.»
«Wann sind Sie denn gestern Abend weggegangen?»
«Gegen sechs, Sir.»
«Danke sehr, Dorcas, das wäre alles, was ich Sie fragen wollte.» Poirot erhob sich und schlenderte zum Fenster. «Ich habe die Blumenbeete vorhin bewundert. Ach, übrigens, wie viele Gärtner arbeiten eigentlich hier?»
«Jetzt nur noch drei. Vor dem Krieg hatten wir fünf, als alles hier noch so in Stand gehalten wurde, wie es sich für so einen vornehmen Landsitz gehört. Ich wünschte nur, Sie hätten es damals sehen können. Das war ein schöner Anblick. Aber jetzt gibt es nur noch den alten Manning und den jungen William und eine neumodische Gärtnerin, die Hosen trägt. Ach, wir leben in furchtbaren Zeiten!»
«Die guten Zeiten werden wiederkehren, Dorcas, wenigstens hoffen wir das. Wären Sie jetzt so freundlich und schicken Annie herein?»
«Ja, Sir, selbstverständlich.»
«Woher wussten Sie, dass Mrs. Inglethorp ein Schlafmittel nahm?», fragte ich neugierig, nachdem Dorcas das Zimmer verlassen hatte. «Und was hat es mit dem verlorenen Schlüssel und dem Zweitschlüssel auf sich?»
«Eins nach dem andern. Das mit dem Schlafmittel wusste ich hierdurch.» Er zog plötzlich eine kleine Schachtel hervor, wie sie in Apotheken verkauft wird.
«Wo haben Sie die gefunden?»
«In der Waschtischschublade in Mrs. Inglethorps Schlafzimmer. Das war die Nummer sechs in meiner Aufzählung.» «Aber wenn sie vor zwei Tagen das letzte Schlafmittel nahm, hat das doch keine große Bedeutung, oder?»
«Wahrscheinlich nicht, aber fällt Ihnen an dieser Schachtel nichts auf?»
Ich betrachtete sie aufmerksam von allen Seiten. «Nein, eigentlich nicht.»
«Sehen Sie sich mal das Etikett an.»
Ich las aufmerksam, was darauf stand: «Mrs. Inglethorp. Falls erforderlich, ein Pulver vor dem Einschlafen. — Nein, mir fällt nichts auf.»
«Und dass der Name der Apotheke nicht darauf steht?»
«Stimmt, das ist sehr merkwürdig!»
«Haben Sie schon jemals einen Apotheker eine Schachtel verkaufen sehen, auf der nicht der Name der Apotheke stand?»
«Nicht, dass ich mich erinnern könnte.»
Ich war ganz aufgeregt, aber Poirot dämpfte meinen Eifer mit der Bemerkung: «Doch die Erklärung ist ganz einfach, mein Freund. Zerbrechen Sie sich nicht weiter den Kopf.»
Draußen hörte man Schritte, die Annies Kommen ankündigten, deshalb blieb mir keine Zeit mehr für eine Antwort.
Annie war ein hübsches dralles Mädchen und offensichtlich sehr aufgeregt, gleichzeitig schien sie die Tragödie aber auf eine makabere Art zu genießen.
Poirot kam sofort zur Sache.
«Ich habe Sie hergebeten, Annie, weil ich hoffte, Sie könnten mir etwas zu den Briefen sagen, die Mrs. Inglethorp gestern Abend geschrieben hat. Wie viele waren es? Können Sie mir die Namen und Adressen sagen?»
Annie überlegte.
«Es waren vier Briefe, Sir. Einer war an Miss Howard und einer war an Mr. Wells, den Rechtsanwalt, und an die anderen zwei kann ich mich nicht mehr erinnern, Sir — oh, doch, einer war an das Lebensmittelgeschäft Ross in Tadminster. Den Letzten weiß ich nicht mehr.»
«Denken Sie nach», drängte Poirot.
Annie zerbrach sich den Kopf, aber vergeblich.
«Es tut mir Leid, Sir, ich hab es total vergessen. Ich glaube, ich habe diese Adresse auch gar nicht genau sehen können.»
Poirot ließ sich keine Enttäuschung anmerken. «Das macht nichts. Jetzt möchte ich Sie noch etwas anderes fragen. In Mrs. Inglethorps Zimmer steht ein Topf mit Kakao. Hat sie jeden Abend welchen getrunken?»
«Ja, Sir, der wurde ihr jeden Abend aufs Zimmer gebracht und sie hat ihn sich dann warm gemacht — wenn sie Appetit darauf bekam.»
«Was war es genau? Einfach nur Kakao?»
«Ja, Sir, mit Milch, einem Teelöffel Zucker und zwei Teelöffeln Rum.»
«Wer brachte ihr den nach oben?»
«Ich, Sir.»
«Immer?»
«Ja, Sir.»
«Um wieviel Uhr?»
«Immer wenn ich die Gardinen zuzog, Sir.»
«Haben Sie ihn immer direkt von der Küche hochgebracht?»
«Nein, Sir. Wissen Sie, auf dem Herd ist nicht viel Platz, deshalb machte die Köchin den Kakao schon früher fertig, bevor sie das Gemüse für das Abendessen aufsetzte. Danach brachte ich ihn immer hoch und stellte ihn auf den Tisch neben der Schwingtür, und später brachte ich ihn dann in ihr Zimmer.»
«Die Schwingtür ist im linken Flügel, ja?»
«Ja, Sir.»
«Und der Tisch — steht der auf dieser Seite von der Tür oder auf der anderen, der Dienstbotenseite?»
«Auf dieser Seite, Sir.»
«Um wieviel Uhr haben Sie den Kakao gestern hochgebracht?»
«Ungefähr um Viertel nach sieben, glaube ich.»
«Und wann haben Sie ihn in Mrs. Inglethorps Zimmer gebracht?»
«Als ich hochging, um die Fenster zu schließen, Sir. Da war es so acht Uhr. Mrs. Inglethorp kam hoch, während ich noch damit zugange war.»
«Dann stand also der Kakao zwischen sieben Uhr fünfzehn und acht Uhr auf dem Tisch im linken Flügel?»
«Ja, Sir.» Annies Gesicht war immer röter geworden und jetzt platzte sie heraus: «Und wenn da Salz drin war, dann war das nicht meine Schuld. Ich habe nie Salz mit hochgenommen.»
«Wie kommen Sie darauf, dass Salz darin war?», fragte Poirot.
«Ich habe es auf dem Tablett gesehen, Sir.»
«Sie haben auf dem Tablett Salz gesehen?»
«Ja, es sah aus wie grobes Küchensalz. Als ich das Tablett hochbrachte, hab ich es nicht gesehen, aber als ich dann später das Tablett in Mrs. Inglethorps Schlafzimmer bringen wollte, hab ich es gleich bemerkt. Wahrscheinlich hätte ich das Tablett mit runternehmen und die Köchin bitten sollen, neuen Kakao zu kochen. Aber ich war in Eile, denn Dorcas war nicht da, und ich dachte, der Kakao selbst wäre in Ordnung, und irgendwer hätte Salz auf dem Tablett verschüttet. Deshalb wischte ich es mit meiner Schürze weg und brachte das Tablett hinein.»
Ich konnte mich nur noch mit allergrößter Mühe beherrschen. Ohne es zu wissen, hatte Annie uns ein wichtiges Beweisstück geliefert. Wie hätte sie erst die Augen aufgerissen, wenn sie gewusst hätte, dass ihr «grobes Küchensalz» Strychnin war — eins der wirkungsvollsten Gifte, die es überhaupt gibt. Ich bewunderte Poirot für seine Ruhe. Seine Selbstbeherrschung war einfach erstaunlich. Ungeduldig wartete ich auf seine nächste Frage, aber die enttäuschte mich.
«Als Sie in Mrs. Inglethorps Zimmer gingen, war da die Tür zu Miss Cynthias Zimmer verriegelt?»
«Oh ja, Sir, immer. Sie wurde nie geöffnet.»
«Und die Tür zum Zimmer von Mr. Inglethorp? Haben Sie gesehen, ob sie ebenfalls verriegelt war?»
Annie zögerte.
«Das kann ich nicht genau sagen, Sir. Die Tür war geschlossen, aber ich kann nicht sagen, ob sie verriegelt war oder nicht.»
«Hat Mrs. Inglethorp die Tür hinter Ihnen verriegelt, als Sie dann aus dem Zimmer gingen?»
«Nein, Sir, da noch nicht, aber wahrscheinlich hat sie es später getan. Sie hat nachts eigentlich immer abgeschlossen. Jedenfalls immer die Tür zum Flur.»
«Als Sie gestern das Zimmer sauber gemacht haben, war da irgendwo Kerzenwachs auf dem Fußboden?»
«Wachs? Bestimmt nicht, Sir. Mrs. Inglethorp hatte keine Kerze, nur eine Leselampe.»
«Wenn also ein großer Wachsfleck auf dem Teppich gewesen wäre, wäre der Ihnen aufgefallen?»
«Ja, Sir, und ich hätte ihn mit einem Löschblatt und einem Bügeleisen rausgemacht.»
Anschließend wiederholte Poirot die Frage, die er auch schon Dorcas gestellt hatte: «Besaß Mrs. Inglethorp jemals ein grünes Kleid?»