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«Mademoiselle», sagte er ernst, «ich möchte Sie etwas fragen.»

«Nur zu», sagte sie und betrachtete ihn mit ziemlicher Abneigung.

«Ich möchte auf Ihre Hilfe zählen können.»

«Ich helfe Ihnen mit Freuden, Alfred an den Galgen zu bringen», erwiderte sie barsch. «Hängen ist noch viel zu gut für ihn. Er sollte gerädert und gevierteilt werden, wie in den guten alten Zeiten.»

«Dann sind wir uns ja einig», sagte Poirot. «Denn auch ich will den Verbrecher hängen sehen.»

«Alfred Inglethorp?»

«Ihn oder einen anderen.»

«Ein anderer kommt nicht in Frage. Die arme Emily wurde erst ermordet, als er hier auftauchte. Ich will damit nicht sagen, dass sie nicht von Blutsaugern umgeben gewesen wäre — das war sie. Aber die waren nur hinter ihrem Geldbeutel her und wollten ihr nicht ans Leben. Doch dann kommt Alfred Inglethorp — und schon nach zwei Monaten — schwupps! ist es passiert!»

«Glauben Sie mir, Miss Howard», sagte Poirot sehr ernst, «falls Mr. Inglethorp der Täter ist, soll er mir nicht entwischen. Ich gebe Ihnen mein Ehrenwort: dann soll er hängen!»

«Das klingt schon besser», sagte Miss Howard etwas freundlicher.

«Aber ich muss Sie bitten, mir zu vertrauen. Ihre Hilfe kann jetzt sehr wertvoll für mich sein. Ich werde Ihnen sagen, warum. Weil in diesem ganzen großen Trauerhaus Ihre Augen die einzigen rot geweinten sind.»

Miss Howard blinzelte und in ihrer barschen Stimme war ein neuer Unterton.

«Wenn Sie damit sagen wollen, dass ich sie gern hatte — ja, das stimmt. Wissen Sie, Emily war auf ihre Weise eine egoistische alte Frau. Sie war sehr großzügig, aber sie verlangte immer eine Gegenleistung. Sie ließ die Leute nie vergessen, was sie für sie getan hatte — und auf diese Weise erntete sie keine Liebe. Aber glauben Sie nur nicht, das hätte sie nicht gewusst, oder nicht gespürt. Jedenfalls glaube ich das nicht. Bei mir lagen die Dinge anders. Ich habe das gleich zu Anfang klar gestellt. <Ich koste Sie so und so viel Geld im Jahr. Aber damit hat sich's. Keinen einzigen Penny mehr, kein Paar Handschuhe, keine Theaterkarte.> Das verstand sie nicht — manchmal war sie deshalb ziemlich beleidigt. Sagte, ich hätte einen albernen Stolz. Das war es aber nicht, ich kann es nur schwer erklären. Jedenfalls bewahrte ich mir so meine Selbstachtung. Und deshalb war ich die Einzige von der ganzen Meute, die sich liebevolle Gefühle für sie leisten konnte. Ich passte auf sie auf. Ich beschützte sie vor den anderen. Und dann kam dieser Süßholz raspelnde Lump ins Haus und wutsch! waren meine jahrelangen Mühen für die Katz.»

Poirot nickte verständnisvoll.

«Ich verstehe, Mademoiselle, ich verstehe, was Sie fühlen. Das ist nur natürlich. Sie halten uns für gleichgültig — Sie denken, es mangelt uns an Begeisterung und Energie —, aber glauben Sie mir, das stimmt nicht.»

Da steckte John seinen Kopf durch den Türspalt und forderte uns auf, nach oben in Mrs. Inglethorps Zimmer mitzukommen, da er und Mr. Wells mit der Durchsuchung des Schreibtischs im Boudoir fertig seien.

Als wir die Treppe hochgingen, blickte John zum Esszimmer zurück und senkte vertraulich seine Stimme: «Guter Gott, was wird nur sein, wenn diese beiden aufeinander treffen?»

Ich schüttelte ratlos den Kopf.

«Ich habe Mary gebeten, sie nach Möglichkeit auseinanderzuhalten.»

«Ob ihr das gelingen wird?»

«Das weiß nur der liebe Gott. Aber Inglethorp selbst ist auch nicht gerade scharf darauf, ihr zu begegnen.»

«Sie haben doch noch die Schlüssel, Poirot, nicht wahr?», fragte ich, als wir vor der Tür des verschlossenen Zimmers standen.

John erhielt von Poirot die Schlüssel und schloss auf, und wir gingen hinein. Der Rechtsanwalt ging direkt zum Tisch und John folgte ihm.

«Meine Mutter bewahrte meines Wissens ihre wichtigsten Papiere in diesem Aktenkoffer auf.»

Poirot holte einen kleinen Schlüsselbund hervor.

«Gestatten Sie. Ich habe ihn heute Morgen vorsichtshalber abgeschlossen.»

«Aber jetzt ist er offen.»

«Unmöglich!»

«Hier!» Während er das sagte, hob John den Deckel hoch.

«Mille tonnerres!», rief Poirot überrascht. «Und ich — ich habe beide Schlüssel in meiner Tasche!» Er stürzte sich auf den Koffer. Plötzlich erstarrte er. «En voila une affaire! Dieses Schloss wurde gewaltsam geöffnet!»

«Was?»

Poirot legte den Koffer wieder hin.

«Aber wer brach es auf? Und warum? Wann? Aber die Tür war doch abgeschlossen!», stießen wir unzusammenhängend hervor.

Poirot antwortete kategorisch — fast mechanisch.

«Wer? Das ist die Frage. Warum? Ach, wenn ich das nur wüsste. Wann? In der vergangenen Stunde, nachdem ich hier war. Die Tür war zwar verschlossen, aber das ist ein sehr einfaches Schloss. Wahrscheinlich passt dazu jeder andere Zimmerschlüssel von diesem Flur.»

Wir sahen einander ratlos an. Poirot war zum Kaminsims gegangen.

Nach außen hin war er ruhig, aber ich sah, dass seine Hände heftig zitterten, als er aus alter Gewohnheit die Vasen auf dem Sims gerade rückte.

«Es gibt dafür nur eine Erklärung», sagte er schließlich. «In diesem Koffer war irgendetwas — irgendein Beweisstück, vielleicht ganz unscheinbar, aber immer noch verräterisch genug, um den Mörder mit dem Verbrechen in Zusammenhang zu bringen. Es war für ihn absolut wichtig, dass er es zerstörte, bevor es entdeckt und seine Bedeutung erkannt wurde. Deshalb nahm er das Risiko auf sich — das große Risiko — und kam her. Er fand den Koffer verschlossen, also musste er das Schloss aufbrechen und damit seine Anwesenheit verraten. Es muss also etwas äußerst Wichtiges gewesen sein, weil er dieses Risiko einging.»

«Aber was war das?»

«Ha!» Poirot machte eine wütende Handbewegung. «Das weiß ich nicht! Zweifellos irgendein wichtiges Dokument, möglicherweise das Blatt Papier, das Dorcas gestern Nachmittag in ihrer Hand sah. Und ich» — hier brach sich sein Zorn freie Bahn —, «ich Unglückswurm, der ich bin! Ich habe das nicht erraten! Ich habe mich wie ein Dummkopf aufgeführt! Ich hätte den Koffer niemals hier stehen lassen dürfen. Ich hätte ihn mitnehmen müssen. Ah, gleich dreimal gepatzt! Und jetzt ist es verschwunden. Es ist zerstört — aber ist es wirklich zerstört? Gibt es nicht noch eine kleine Chance? Wir dürfen nichts unversucht lassen.»

Er rannte wie ein Verrückter aus dem Zimmer, und ich folgte ihm, sobald ich meine fünf Sinne wieder beisammen hatte. Aber als ich oben auf dem Treppenabsatz ankam, war er nicht mehr zu sehen.

Mrs. Cavendish stand dort, wo die Treppe sich gabelte, und starrte hinunter in die Halle in die Richtung, in der er verschwunden war.

«Was ist denn Ihrem seltsamen kleinen Freund widerfahren, Mister Hastings? Er ist gerade wie ein wütender Stier an mir vorbeigestürmt.»

«Er hat sich über etwas sehr aufgeregt», bemerkte ich wenig überzeugend. Ich wusste wirklich nicht, wieviel ich mit Poirots Einverständnis verraten durfte. Um Mrs. Cavendishs ausdrucksvollen Mund spielte ein leises Lächeln, bei dessen Anblick ich es wagte, das Thema zu wechseln: «Sie sind sich noch nicht begegnet, die beiden, oder?»

«Wer?»

«Mr. Inglethorp und Miss Howard.»

Sie sah mich auf eine irritierende Weise an.

«Halten Sie es für ein solches Unglück, wenn sie sich begegnen würden?»

«Na, Sie etwa nicht?», fragte ich erstaunt.

«Nein.» Sie lächelte auf ihre zurückhaltende Art. «Mir wäre ein ordentlicher Wutausbruch ganz recht. Der würde die Luft reinigen. Im Augenblick grübeln alle nur vor sich hin und sagen kaum etwas.»

«John ist da anderer Meinung. Er möchte sie unbedingt auseinander halten.»

«Ach, John!»

Irgendetwas in ihrer Stimme reizte mich, und ich platzte heraus: «Der alte John ist ein unheimlich netter Kerl!»

Ein paar Sekunden lang sah sie mich aufmerksam an, dann sagte sie zu meiner großen Überraschung: «Sie halten Ihrem Freund die Treue. Das mag ich an Ihnen.»