«Sind wir nicht auch Freunde?»
«Ich bin eine sehr schlechte Freundin.»
«Warum sagen Sie das?»
«Weil es wahr ist. Heute bin ich nett zu meinen Freunden und morgen schon habe ich sie vergessen.»
Ich weiß nicht, welcher Teufel mich ritt, aber ich war gekränkt, und so sagte ich törichterweise und nicht gerade sehr taktvolclass="underline" «Aber zu Dr. Bauerstein sind Sie immer nett!»
In der nächsten Sekunde bereute ich meine Worte. Ihr Gesicht wurde zur Maske: Es war so, als würde sich ein eiserner Vorhang senken und die wirkliche Mary Caven-dish verbergen. Wortlos drehte sie sich um und schritt rasch die Treppe hoch, während ich ihr wie ein Idiot mit offenem Mund hinterherstarrte.
Ein lauter Streit in der Halle unten holte mich wieder in die Wirklichkeit zurück. Ich hörte Poirot brüllen und argumentieren. Es kränkte mich, dass meine ganze Diplomatie umsonst gewesen sein sollte. Der kleine Mann war offensichtlich dabei, alle Hausbewohner ins Vertrauen zu ziehen, eine Vorgehensweise, deren Klugheit zumindest ich bezweifelte. Wieder einmal bedauerte ich, dass mein Freund dazu neigte, in stürmischen Situationen den Kopf zu verlieren. Rasch ging ich die Treppe herunter. Bei meinem Anblick beruhigte Poirot sich beinahe sofort. Ich zog ihn beiseite.
«Mein lieber Freund», sagte ich, «ist das klug? Bestimmt wollen Sie doch nicht, dass alle im Haus von diesem Vorfall erfahren? Sie spielen damit dem Täter ja in die Hände.»
«Glauben Sie, Hastings?»
«Ich bin mir ganz sicher.»
«Na gut, mein Freund, ich werde Ihrem Rat folgen.»
«Gut. Obwohl es dafür jetzt ein bisschen zu spät ist.»
«Wie wahr.»
Er sah so niedergeschlagen und beschämt aus, dass er mir schon wieder Leid tat, obwohl ich immer noch glaubte, dass meine Kritik korrekt und begründet gewesen war.
«Dann lassen Sie uns gehen, mon ami», sagte er schließlich.
«Sind Sie hier fertig?»
«Ja, zumindest im Augenblick. Begleiten Sie mich zurück ins Dorf?»
«Gern.»
Er ergriff sein Köfferchen und wir gingen durch die offene Terrassentür in den Salon. Cynthia Murdoch kam gerade herein und Poirot trat zurück, um sie vorbei zu lassen.
«Entschuldigen Sie, Mademoiselle, nur eine Minute.»
«Ja?» Sie drehte sich fragend um.
«Haben Sie jemals die Medizin für Mrs. Inglethorp zubereitet?»
Sie errötete leicht, während sie eher steif antwortete: «Nein.»
«Nur ihre Schlafpulver.»
Sie errötete noch stärker, während sie antwortete: «Oh ja, ich habe ihr mal ein Schlafpulver zubereitet.»
«Das hier?»
Poirot zeigte ihr die leere Schachtel, in der die Schlafmittel gewesen waren.
Sie nickte.
«Können Sie mir sagen, woraus sie bestanden? Sulfo-nal? Veronal?»
«Nein, es war ein Brompräparat.»
«Aha! Danke schön, Mademoiselle, auf Wiedersehen.»
Als wir uns mit schnellem Schritt vom Haus entfernten, sah ich ihn mehr als einmal an. Ich hatte schon oft be-merkt, dass seine Augen grün wurden wie die einer Katze, wenn ihn etwas erregte. Jetzt funkelten sie wie Smaragde.
«Mein Freund», brach es schließlich aus ihm heraus, «ich habe eine kleine Idee, eine sehr seltsame und wahrscheinlich gänzlich unmögliche Idee. Und dennoch — so passt alles zusammen.»
Ich zuckte die Achseln. Ich fand, dass Poirot ohnehin viel zu viele dieser phantastischen Einfälle hatte. In dem Fall hier war die Wahrheit ja nur zu klar ersichtlich.
«Das ist also die Erklärung für das leere Etikett auf der Schachtel», stellte ich fest. «Sehr einfach, wie Sie schon sagten. Ich wundere mich wirklich, dass ich nicht selber darauf gekommen bin.»
Aber Poirot schien mir gar nicht zuzuhören.
«Sie haben eine weitere Entdeckung gemacht, la-bas.» Er wies mit dem Daumen über die Schulter in die Richtung von Styles. «Mr. Wells erzählte mir davon, als wir nach oben gingen.»
«Was denn?»
«Im Schreibtisch im Boudoir fanden sie ein Testament von Mrs. Inglethorp, das sie vor ihrer Ehe verfasst haben muss, in dem sie ihr gesamtes Vermögen Alfred Ingle-thorp hinterlässt. Sie muss es zur Zeit ihrer Verlobung gemacht haben. Mr. Wells war davon sehr überrascht — und John Cavendish ebenfalls. Es war auch auf einem dieser vorgedruckten Formulare geschrieben und von zwei Zeugen beglaubigt — aber nicht von Dorcas.»
«Wusste Mr. Inglethorp davon?»
«Er sagt, nein.»
«Das muss man ja nicht unbedingt glauben», bemerkte ich skeptisch. «All diese Testamente sind ziemlich verwirrend. Verraten Sie mir doch bitte, wie Ihnen diese Kritzeleien auf dem Briefumschlag verraten konnten, dass gestern Nachmittag ein Testament gemacht wurde.»
Poirot lächelte.
«Mon ami, haben Sie niemals beim Briefeschreiben erlebt, dass Sie plötzlich nicht mehr wussten, wie ein bestimmtes Wort geschrieben wird?»
«Ja, oft. Ich glaube, das passiert jedem mal.»
«Genau. Und haben Sie nicht auch in so einem Fall das Wort ein- oder zweimal auf den Rand vom Löschpapier gekritzelt? Genau das hat Mrs. Inglethorp getan. Wenn Sie genau hinschauen, dann sehen Sie, dass das Wort <besessen> zuerst mit ß — <beseßen> — und danach richtig mit zwei s geschrieben wurde. Um sicher zu gehen, hatte sie es auch noch in einem Satz ausprobiert: <ich habe besessen>. Eh bien, und was verriet mir das? Ich erfuhr dadurch, dass Mrs. Inglethorp an diesem Nachmittag das Wort <besessen> geschrieben hat, und im Zusammenhang mit dem verkohlten Papierfetzen aus dem Kamin fiel mir sofort ein, dass es sich dabei um ein Testament handeln könnte, da ein solches Dokument mit ziemlicher Sicherheit dieses Wort enthalten würde. Diese Möglichkeit wurde durch einen anderen Umstand noch bestätigt. In der allgemeinen Aufregung war das Boudoir heute Morgen nicht gefegt worden, und in der Nähe des Schreib-tischs lagen einige Erd- und Humusklümpchen. Das Wetter in den letzten Tagen war jedoch ausnehmend schön, und deshalb konnte kein gewöhnlicher Schuh diese Spuren hinterlassen haben.
Ich schlenderte ans Fenster und sah sogleich, dass die Begonien in dem Beet erst vor kurzem eingepflanzt worden waren. Der Humus auf dem Beet war genau der gleiche wie der auf dem Fußboden im Boudoir, und von Ihnen erfuhr ich dann, dass die Blumen gestern Nachmittag gepflanzt worden waren. Ich war mir jetzt sicher, dass einer oder möglicherweise beide Gärtner — denn in dem Beet gab es zwei verschiedene Spuren — in das Boudoir gekommen waren, denn wenn Mrs. Inglethorp mit ihnen nur hätte sprechen wollen, hätte sie sich höchstwahrscheinlich ans Fenster gestellt und die Gärtner hätten das Zimmer gar nicht betreten. Ich war nun ziemlich überzeugt davon, dass sie ein neues Testament gemacht und die Gärtner hereingerufen hatte, um es mit ihrer Unterschrift zu bezeugen. Die Ereignisse zeigten dann, dass ich mit meinen Annahmen Recht hatte.»
«Das war sehr scharfsinnig», musste ich zugeben. «Ich muss gestehen, dass ich ganz andere Schlussfolgerungen aus den paar hingekritzelten Worten gezogen habe.»
Er lächelte.
«Sie haben Ihrer Phantasie freien Lauf gelassen! Phantasie ist ein guter Diener, aber ein schlechter Herr. Die einfachste Erklärung ist meistens die wahrscheinlichste.»
«Ein anderer Punkt: woher wussten Sie, dass der Schlüssel des Koffers verloren gegangen war?»
«Das wusste ich nicht; das war eine Annahme, die sich dann als richtig herausstellte. Sie haben doch bemerkt, dass an dem Schlüssel ein Stückchen Draht hing. Daran erkannte ich gleich, dass er von einem nicht sehr stabilen Schlüsselring abgerissen worden war. Wenn es aber der wiedergefundene Schlüssel gewesen wäre, hätte Mrs. Inglethorp ihn wieder an ihrem Schlüsselbund befestigt. Doch an ihrem Bund befand sich der klar erkennbare Zweitschlüssel, sehr neu und glänzend. Das verleitete mich zu der Hypothese, dass ein anderer den Originalschlüssel in den Koffer gesteckt hatte.»