«Ich bin absolut ernst, mein Freund.»
«Aber das ist kindisch!»
«Nein, das ist höchst wichtig.»
«Nehmen wir einmal an, die Untersuchung ergibt einen Urteilsspruch, sodass Alfred Inglethorp des Mordes angeklagt wird. Was wird dann aus Ihren Theorien?»
«Die würden doch nicht dadurch erschüttert, dass zwölf dumme Menschen zufälligerweise einen Fehler gemacht haben! Aber das wird nicht geschehen. Erstens ist eine Jury auf dem Lande nicht so wild darauf, eine solche Verantwortung zu übernehmen, und Mr. Inglethorp hat hier gewissermaßen die Stellung des Gutsherrn. Zweitens», fügte er selbstzufrieden hinzu, «werde ich es nicht erlauben!»
«Sie werden es nicht erlauben?»
«Nein.»
Ich betrachtete den außergewöhnlichen kleinen Mann und wusste nicht, ob ich mich ärgern oder lachen sollte. Er war so unglaublich selbstsicher. Als ob er meine Gedanken gelesen hätte, nickte er freundlich.
«Oh ja, mon ami. Ich würde tun, was ich sage.» Er stand auf und legte seine Hand auf meine Schulter. Sein Gesichtsausdruck veränderte sich gänzlich. Tränen traten in seine Augen. «Bei all dem, wissen Sie, denke ich an die arme tote Mrs. Inglethorp. Sie wurde nicht überschwäng-lich geliebt — nein. Aber sie war sehr gut zu uns Belgiern — ich stehe in ihrer Schuld.»
Ich wollte ihn unterbrechen, aber Poirot fuhr fort.
«Lassen Sie mich Ihnen eins sagen, Hastings. Sie würde es mir nie verzeihen, wenn ich zuließe, dass man Alfred Inglethorp, ihren Mann, jetzt verhaften würde — wenn ein Wort von mir ihn retten könnte!»
Sechstes Kapitel
Die gerichtliche Voruntersuchung
In den Tagen bis zur gerichtlichen Voruntersuchung war Poirot ungemein aktiv. Zweimal saß er mit Mr. Wells hinter verschlossenen Türen. Er unternahm auch lange Spaziergänge über Land. Ich war ziemlich gekränkt, dass er mich nicht in sein Vertrauen zog — umso mehr, als ich nicht die leiseste Ahnung hatte, was er im Schilde führte.
Mir kam der Gedanke, dass er vielleicht Erkundigungen auf Raikes' Farm einzog, und als ich ihn dann am Mittwochabend nicht zu Hause antraf, machte ich einen Spaziergang über die Felder in der Hoffnung, ihn zu treffen. Aber weit und breit war nichts von ihm zu sehen und ich wollte nicht allein zu der Farm gehen. Auf dem Rückweg begegnete ich einem alten Bauern, der mich durchtrieben von der Seite ansah.
«Sie sind doch von Styles?», fragte er.
«Ja, ich bin auf der Suche nach einem Freund. Ich dachte, er wäre hier entlang gegangen.»
«Ein kleiner Kerl? Der beim Reden mit den Händen fuchtelt? Einer von den Belgiern aus dem Dorf?»
«Ja», antwortete ich eifrig. «Ist er hier gewesen?»
«Doch ja, der war hier, jawohl. Und mehr als einmal. Ein Freund von Ihnen, ja? Ach, ihr feinen Herrn vom Schloss, ihr seid mir schon welche!» Und dann blickte er mich wieder äußerst pfiffig an.
«Warum? Kommen die Herren vom Gutshof denn öfter hierher?», fragte ich beiläufig. Er zwinkerte mir wissend zu.
«Einer, Mister. Aber ich nenne keinen Namen, nein. Und ein sehr großzügiger Herr dazu! Na, den sollten Sie mal erleben, Sir, jawohl!»
Ich ging rasch davon. Evelyn Howard hatte also Recht gehabt, und ich verspürte einen heftigen Widerwillen angesichts von Alfred Inglethorps großzügigem Umgang mit dem Geld seiner Frau. War etwa das reizvolle zigeunerhafte Gesicht die Ursache des Verbrechens oder war die Haupttriebfeder das Geld? Wahrscheinlich eine Mischung aus beidem.
In einem Punkt erschien Poirot seltsam eigensinnig. Er erwähnte ein- oder zweimal mir gegenüber, dass seiner Meinung nach Dorcas sich beim Zeitpunkt des Streits geirrt haben musste. Er fragte sie wiederholt, ob es nicht halb fünf statt vier Uhr gewesen sei, als sie die Stimmen hörte.
Aber Dorcas hielt an ihrer Aussage fest. Zwischen dem Streit und 5 Uhr, als sie Mrs. Inglethorp den Tee brachte, sei bestimmt eine Stunde oder mehr vergangen.
Die gerichtliche Voruntersuchung fand am Freitag im dörflichen Gasthof statt. Poirot und ich saßen nebeneinander, wir sollten nicht als Zeugen vernommen werden.
Die Präliminarien wurden erledigt. Die Geschworenen besichtigten die Leiche und John Cavendish identifizierte sie.
Bei der anschließenden Befragung schilderte er, wie er in den frühen Morgenstunden aufgewacht war und unter welchen Umständen seine Mutter gestorben war.
Als Nächstes kamen die medizinischen Gutachten dran. Es herrschte atemloses Schweigen und alle Augen waren auf den berühmten Londoner Spezialisten gerichtet, der als eine der bedeutendsten Kapazitäten auf dem Gebiet der Toxikologie galt.
In wenigen kurzen Worten fasste Dr. Bauerstein das Ergebnis der Autopsie zusammen. Wenn man die medizinischen und technischen Fachausdrücke beiseite ließ, ergaben die Tatsachen, dass Mrs. Inglethorp an einer Strychninvergiftung gestorben war. In Anbetracht der gefundenen Mengen musste sie mindestens drei Viertel Gran Strychnin eingenommen haben, wahrscheinlich aber ein Gran oder sogar mehr.
«Ist es möglich, dass sie das Gift aus Versehen geschluckt hat?», fragte der Untersuchungsrichter.
«Das halte ich für höchst unwahrscheinlich. Strychnin wird nicht für Haushaltszwecke verwendet wie andere Gifte, und man kann es nur mit besonderer Genehmigung kaufen.»
«Haben Ihre Untersuchungen darüber Aufschluss gebracht, wie das Gift verabreicht wurde?»
«Nein.»
«Soweit ich weiß, sind Sie vor Dr. Wilkins in Styles angekommen?»
«Das stimmt. Das Auto begegnete mir vor dem Parktor und ich eilte dann so schnell zum Haus, wie ich konnte.»
«Wären Sie so freundlich und berichten uns, was anschließend geschah?»
«Ich betrat Mrs. Inglethorps Zimmer. Sie befand sich gerade in einem starrkrampfähnlichen Zustand. Sie drehte sich zu mir um und keuchte: <Alfred. Alfred.. .»>
«Hätte sich das Strychnin in dem Kaffee befinden können, der ihr von ihrem Mann gebracht wurde?»
«Möglicherweise, aber Strychnin wirkt ziemlich schnell. Die Wirkung zeigt sich ein bis zwei Stunden nach der Einnahme. Unter bestimmten Bedingungen setzt sie erst später ein, doch in diesem Fall trifft keine davon zu. Ich nehme an, dass Mrs. Inglethorp ihren Kaffee nach dem Essen so gegen acht Uhr trank. Doch die Symptome zeigten sich erst in den frühen Morgenstunden, das weist darauf hin, dass das Gift erst sehr viel später am Abend eingenommen wurde.»
«Mrs. Inglethorp hatte die Angewohnheit, um Mitternacht eine Tasse Kakao zu trinken. Könnte er das Strychnin enthalten haben?»
«Nein, ich habe selbst eine Probe des Kakaorests in dem Topf untersucht. Er enthielt kein Strychnin.»
Ich hörte Poirot neben mir leise lachen.
«Woher wussten Sie das?», flüsterte ich.
«Hören Sie zu.»
«Ich würde sagen», fuhr der Arzt fort, «dass jedes andere Ergebnis mich auch sehr überrascht hätte.»
«Warum?»
«Einfach deshalb, weil Strychnin einen außergewöhnlich bitteren Geschmack hat. Man kann es noch in einer Lösung von eins zu siebzigtausend herausschmecken, und es kann nur durch einen sehr starken Geschmack überdeckt werden. Kakao würde dazu nicht ausreichen.»
Einer der Geschworenen wollte wissen, ob das Gleiche auch für Kaffee zuträfe.
«Nein. Kaffee hat selbst einen sehr bitteren Geschmack, der den von Strychnin wahrscheinlich überdecken würde.»
«Dann halten Sie es für wahrscheinlicher, dass das Gift im Kaffee war, die Wirkung sich aber aus irgendeinem unbekannten Grund verzögerte?»
«Ja. Da die Tasse jedoch völlig zertrümmert wurde, konnten wir den Inhalt nicht mehr analysieren.»
Damit war Dr. Bauersteins Aussage beendet. Dr. Wil-kins stimmte ihm in allen wesentlichen Punkten zu. Als er zu der Möglichkeit eines Selbstmords befragt wurde, wies er das gänzlich von sich. Die Verstorbene litt zwar an einem schwachen Herzen, aber ansonsten erfreute sie sich bester Gesundheit und befand sich in einer heiteren, ausgeglichenen Gemütsverfassung. Sie wäre die Letzte gewesen, die sich das Leben genommen hätte.