«Natürlich kann ich das.»
«Ach ja?»
«Das ist doch ganz einfach. Das Zimmer war nur schwach erleuchtet. Dr. Bauerstein hat in etwa meine Größe und Statur und trägt wie ich einen Bart. In dem schwachen Licht und so, wie sie litt, verwechselte ihn meine Frau mit mir.»
«Ah!», machte Poirot. «Nicht schlecht!»
«Glauben Sie, das stimmt?», flüsterte ich.
«Das würde ich nicht sagen. Aber es ist ein wirklich erfinderischer Einfall.»
«Sie hören aus den letzten Worten meiner Frau eine Anklage heraus» — Inglethorp redete weiter —, «doch sie waren ganz im Gegenteil ein Hilferuf an mich.»
Der Untersuchungsrichter dachte kurz nach und sagte dann: «Soweit ich weiß, waren Sie es, Mr. Inglethorp, der an diesem Abend den Kaffee einschenkte und Ihrer Frau brachte?»
«Ich goss ihn ein, das ja. Aber ich brachte ihn ihr nicht. Ich wollte ihn hochbringen, aber man sagte mir, ein Freund sei an der Haustür, deshalb stellte ich die Tasse auf den Tisch in der Halle. Als ich kurz darauf wiederkam, stand sie nicht mehr da.»
Diese Aussage mochte wahr sein oder auch nicht, aber sie schien meiner Ansicht nach Inglethorps Lage nicht zu verbessern.
Jedenfalls hatte er reichlich Zeit gehabt, das Gift hineinzutun.
In diesem Augenblick stieß Poirot mich leicht an und wies auf zwei Männer, die nebeneinander nahe bei der Tür saßen. Der eine war ein kleiner Mann mit Frettchengesicht und der andere war groß und blond.
Ich blickte Poirot fragend an. Er flüsterte mir ins Ohr:
«Wissen Sie, wer der kleine Mann ist?» Ich schüttelte den Kopf. «Das ist Kriminalinspektor James Japp von Scotland Yard Jimmy Japp. Der andere ist auch von Scot-land Yard. Die Dinge geraten in Bewegung, mein Freund.»
Ich sah aufmerksam zu den beiden Männern hinüber. Sie hatten ganz und gar nichts von Polizisten an sich. Ich hätte nie gedacht, dass es sich bei ihnen um Kriminalbeamte handelte.
Ich starrte sie immer noch an, als das Urteil der Geschworenen verlesen wurde: «Vorsätzlicher Mord, der oder die Täter sind unbekannt.»
Siebtes Kapitel
Poirot bezahlt seine Schulden
Als wir aus dem Gasthof traten, zog Poirot mich durch einen sanften Druck auf den Arm zur Seite. Ich begriff, was er vorhatte. Er wartete auf die Männer von Scotland Yard.
Kurz darauf kamen sie heraus und Poirot ging sogleich auf den kleineren zu und begrüßte ihn.
«Ich fürchte, Sie werden sich nicht mehr an mich erinnern, Inspektor Japp.»
«Na, wenn das nicht Mr. Poirot ist!», rief der Inspektor aus. Er drehte sich zu seinem Kollegen um. «Ich habe Ihnen doch schon von Mr. Poirot erzählt? Wir haben 1904 zusammengearbeitet — der Falschmünzerskandal Abercrombie. Sie erinnern sich, er wurde in Brüssel gefasst. Ach, das waren wunderbare Zeiten, Mussjöh! Erinnern Sie sich noch an den <Baron> Altara? Das war vielleicht ein Gauner! Die halbe Polizei Europas war ihm auf den Fersen, doch er entkam immer wieder. Aber wir erwischten ihn dann in Amsterdam — dank Mr. Poirot hier.»
Während sie in Erinnerungen schwelgten, kam ich hinzu und wurde Inspektor Japp vorgestellt, der uns dann seinerseits seinem Kollegen Summerhaye vorstellte.
«Ich brauche Sie ja wohl kaum zu fragen, was Sie hier tun, meine Herren», bemerkte Poirot.
Japp zwinkerte viel sagend mit einem Auge.
«Nein, wohl kaum. Ziemlich eindeutiger Fall, würde ich sagen.»
Aber Poirot widersprach ernst: «Da bin ich anderer Ansicht.»
«Ach, was sagen Sie da!» Summerhaye machte zum ersten Mal den Mund auf. «Die ganze Sache ist doch sonnenklar. Der Mann ist auf frischer Tat ertappt worden. Ich begreife nicht, wie er so dumm sein konnte!»
Aber Japp sah Poirot aufmerksam an.
«Schonen Sie Ihre Kräfte, Summerhaye», bemerkte er scherzhaft.
«Ich und der Mussjöh kennen uns von früher — und es gibt kaum jemanden, dessen Urteil ich mehr vertraue. Wenn ich mich nicht gewaltig irre, dann hält er mit irgendwas hinterm Berg. Stimmt doch, Monsieur?»
Poirot lächelte.
«Ich habe gewisse Schlussfolgerungen gezogen — ja.»
Summerhaye sah immer noch zweifelnd drein, aber Japp blickte Poirot prüfend an.
«Bisher kennen wir den Fall nur von außen. Wenn sich erst bei der gerichtlichen Untersuchung herausstellt, dass es um einen Mord geht, ist der Yard natürlich im Nachteil. Es hängt viel davon ab, dass man gleich von Anfang an dabei ist, und hier ist Mr. Poirot uns gegenüber im Vorteil. Wir wären ja noch nicht mal jetzt da gewesen, wenn nicht dieser schlaue Arzt uns durch den Untersuchungsrichter einen Tipp hätte zukommen lassen. Aber Sie waren von Anfang an dabei und vielleicht haben Sie ein paar kleine Hinweise aufgeschnappt. Nach den Zeugenaussagen von eben zu urteilen, hat Mr. Inglethorp seine Frau ermordet, so wahr, wie ich hier stehe, und ich würde jedem, der das Gegenteil behauptet, ins Gesicht lachen. Ich muss gestehen, es erstaunte mich, dass die Geschworenen ihn nicht gleich des vorsätzlichen Mordes angeklagt haben. Ich denke, sie hätten es auch getan, wenn der Untersuchungsrichter nicht gewesen wäre — er schien sie davon zurückzuhalten.»
«Vielleicht, obwohl Sie ja jetzt einen Haftbefehl für ihn in der Tasche haben», warf Poirot ein.
Ober Japps ausdrucksvolle Miene legte sich eine Art starre Beamtenmaske.
«Vielleicht habe ich einen, vielleicht auch nicht», erwiderte er trocken.
Poirot sah ihn nachdenklich an.
«Es läge mir viel daran, Messieurs, wenn er nicht verhaftet würde.»
«Das glaube ich gern», bemerkte Summerhaye ironisch.
Japp betrachtete Poirot mit verblüffter Belustigung.
«Wollen Sie uns nicht etwas mehr darüber verraten, Mr. Poirot? Ein Augenzwinkern von Ihnen ist so gut wie ein Nicken. Sie waren von Anfang an dabei — und der Yard möchte nicht gern Fehler machen, wie Sie wissen.»
Poirot nickte ernst.
«Genau das habe ich mir gedacht. Nun gut, ich werde Ihnen etwas sagen: Nehmen Sie Ihren Haftbefehl und verhaften Sie Mr. Inglethorp. Aber das wird Ihnen keine Belobigung einbringen — die Anklage gegen ihn wird sofort fallen gelassen werden. Comme ca!» Und er schnippte vielsagend mit den Fingern.
Japp machte ein sehr ernstes Gesicht, aber Summerhaye schnaubte ungläubig.
Ich hingegen war buchstäblich geplättet vor Staunen. Ich konnte aus all dem nur noch schließen, dass Poirot verrückt geworden war.
Japp hatte ein Taschentuch herausgezogen und betupfte seine Stirn.
«Das wage ich nicht, Monsieur Poirot. Ich würde Sie gern beim Wort nehmen, aber da gibt es auch noch meine Vorgesetzten, die mich fragen werden, was zum Teufel das soll. Können Sie mir nicht ein bisschen mehr verraten?»
Poirot dachte kurz nach.
«Ich gebe zu, ich mache das ungern. Das zwingt mich, meine Karten aufzudecken. Ich hätte gern noch eine Weile unbemerkt weitergearbeitet, aber was Sie da sagen, ist berechtigt — das Wort eines pensionierten belgischen Polizisten genügt nicht! Und Alfred Inglethorp darf nicht verhaftet werden. Das habe ich geschworen, wie mein Freund Hastings hier weiß. Sagen Sie, mein guter Japp, fahren Sie jetzt gleich nach Styles?»
«Nein, erst in einer halben Stunde. Wir wollen zuerst mit dem Arzt und dem Untersuchungsrichter sprechen.»
«Gut. Sie können mich ja dann mitnehmen — ich wohne im letzten Haus im Dorf. Ich werde Sie begleiten. In Styles wird Mr. Inglethorp Ihnen solche Beweise vorlegen — und wenn er es nicht tut, was wahrscheinlich ist, werde ich das tun —, dass man die Anklage gegen ihn unmöglich aufrechterhalten kann. Ist das ein Angebot?»
«Das ist ein Angebot», bestätigte Japp herzlich. «Und im Namen des Yard bin ich Ihnen sehr verpflichtet, obwohl ich Ihnen gestehen muss, dass ich momentan nicht das kleinste Schlupfloch in der Beweiskette sehen kann, aber Sie waren schon immer ein Zauberer! Also, bis dann, Mussjöh.»