«Du lieber Himmel!», schrie Inglethorp und sprang auf, «was für eine grauenvolle Vorstellung! Ich — ich soll meine liebste Emily vergiftet haben!»
«Ich glaube nicht», Poirot beobachtete ihn scharf, «dass Sie sich über die ungünstige Wirkung Ihrer Aussage bei der Untersuchung im Klaren sind. Mr. Inglethorp, weigern Sie sich jetzt immer noch zu sagen, wo Sie am Montagabend um sechs waren?»
Stöhnend ließ Alfred Inglethorp sich wieder niedersinken und vergrub sein Gesicht in den Händen. Poirot ging zu ihm und stellte sich vor ihn.
«Reden Sie!», rief er drohend.
Inglethorp hob mühsam das Gesicht und ließ die Hände sinken. Dann schüttelte er langsam den Kopf.
«Sie wollen nicht reden?»
«Nein. Ich glaube einfach nicht, dass jemand so eine fürchterliche Anklage gegen mich vorbringen könnte.»
Poirot nickte, wie jemand, der sich zu etwas entschlossen hat.
«Soit!», sagte er. «Dann muss ich für Sie sprechen.»
Alfred Inglethorp sprang wieder auf.
«Sie? Wie können Sie denn sprechen? Sie wissen doch gar nicht.» Er brach ab.
Poirot wandte sich zu uns um. «Mesdames et messieurs! Ich werde sprechen! Hören Sie zu! Ich, Hercule Poirot, bestätige hiermit, dass der Mann, der letzten Montag um sechs Uhr abends die Apotheke betrat und Strychnin kaufte, nicht Mr. Inglethorp war, denn um sechs Uhr begleitete Mr. Inglethorp Mrs. Raikes von einem benachbarten Gutshof nach Hause. Ich kann mindestens fünf Zeugen beibringen, die schwören, dass sie die beiden um sechs Uhr oder kurze Zeit später zusammen gesehen haben. Und wie Sie vielleicht wissen, liegt Abbey Farm, Mrs. Raikes' Zuhause, mindestens zweieinhalb Meilen vom Dorf entfernt. Sein Alibi ist also absolut wasserdicht!»
Achtes Kapitel
Neuer Verdacht
Einen Augenblick lang herrschte bestürztes Schweigen. Japp war von uns allen am wenigsten überrascht und ergriff als Erster das Wort.
«Ich schwöre, Sie sind der Größte! Und natürlich sind diese Zeugen alle völlig zuverlässig, was, Poirot?»
«Voila! Ich habe eine Liste vorbereitet — hier sind alle Namen und Adressen. Sie müssen sie selbstverständlich befragen. Aber Sie werden sehen, dass alles stimmt.»
«Davon bin ich überzeugt.» Japp senkte die Stimme. «Ich bin Ihnen sehr dankbar. Seine Verhaftung wäre ja eine ziemliche Pleite gewesen.» Er drehte sich zu Inglethorp um. «Aber entschuldigen Sie, Sir, warum konnten Sie das nicht einfach bei der Untersuchung sagen?»
«Ich werde Ihnen sagen, warum», wurde er von Poirot unterbrochen. «Es gab da gewisse Gerüchte.»
«Höchst bösartige und absolut erfundene», mischte sich Alfred Inglethorp erregt ein.
«Und Mr. Inglethorp war bestrebt, in der gegenwärtigen Situation einen Skandal zu vermeiden. Habe ich recht?»
«Das stimmt.» Inglethorp nickte. «Wundert es Sie vielleicht, dass ich nicht noch mehr Gerüchte in die Welt setzen wollte, wo doch meine arme Emily noch nicht einmal begraben ist.»
«Ganz unter uns, Sir», warf Japp ein. «Ich würde jede Menge Gerüchte einer Verhaftung wegen Mordes vorzie-hen, und ich könnte mir denken, dass Ihre arme Gattin das auch so gesehen haben würde. Denn wenn Mr. Poirot nicht gewesen wäre, hätte ich Sie verhaftet, so wahr ich hier stehe!»
«Das war zweifellos dumm von mir», murmelte Ingle-thorp. «Aber Sie wissen ja gar nicht, Inspektor, wie sehr man mir übel gewollt und mich verleumdet hat.» Dabei warf er Evelyn Howard einen vorwurfsvollen Blick zu.
«Und jetzt würde ich gern das Schlafzimmer der Ermordeten sehen, Sir.» Japp hatte sich an John gewandt. «Und danach möchte ich mich gern ein wenig mit den Dienstboten unterhalten. Sie brauchen sich nicht zu bemühen, Mr. Poirot wird mir den Weg zeigen.»
Während alle den Raum verließen, drehte sich Poirot um und gab mir ein Zeichen, dass ich ihm nach oben folgen sollte. Dort ergriff er mich am Arm und zog mich beiseite.
«Rasch, gehen Sie in den anderen Flügel. Bleiben Sie dort gleich hinter dem Dienstbotendurchgang stehen. Rühren Sie sich nicht von der Stelle, bis ich komme.» Dann drehte er sich rasch um und holte die beiden Kriminalbeamten ein.
Ich befolgte seine Anweisungen, blieb hinter dem Dienstboteneingang stehen und fragte mich, was in aller Welt hinter diesem Wunsch steckte. Sollte ich an dieser besonderen Stelle Wache schieben? Nachdenklich sah ich den Flur entlang. Mit Ausnahme des Zimmers von Cyn-thia Murdoch lagen alle Zimmer in dem anderen Flügel. Hatte es etwas damit zu tun? Sollte ich berichten, wer kam und wer ging? Getreu erfüllte ich meine Pflicht. Die Minuten verstrichen. Niemand kam. Nichts geschah.
Es waren wohl etwa zwanzig Minuten vergangen, als Poirot wieder auftauchte.
«Sie sind nicht fortgegangen?»
«Nein, ich habe mich nicht von der Stelle gerührt. Es ist nichts passiert.»
«Ah!» War er erfreut oder enttäuscht? «Sie haben überhaupt nichts gesehen?»
«Nein.»
«Aber bestimmt haben Sie etwas gehört? Ein umstürzendes Möbelstück vielleicht — eh, mon ami?»
«Nein.»
«Ich ärgere mich schrecklich über meine Ungeschicklichkeit. Stellen Sie sich vor, ich machte eine Handbewegung» — eine von Poirots Gesten — «und schon fiel der Tisch beim Fenster um!»
Er wirkte so bekümmert und niedergeschlagen, dass ich ihn rasch wieder trösten wollte.
«Machen Sie sich nichts daraus, alter Freund. Was macht das schon? Ihr Erfolg unten im Salon hat Sie aufgeregt. Ich kann Ihnen sagen, das war vielleicht eine Überraschung für uns alle! An dieser Affäre zwischen ihm und Mrs. Raikes muss doch mehr dran sein, als wir dachten, sonst hätte er nicht so ausdauernd geschwiegen. Was wollen Sie jetzt tun? Wo sind die Herren von Scotland Yard?»
«Sie sind hinunter zu den Dienstboten gegangen. Ich habe ihnen alle unsere Beweise gezeigt, doch von Japp bin ich enttäuscht. Er arbeitet völlig ohne Methode!»
Ich sah aus dem Fenster.
«Hallo!», sagte ich. «Da kommt ja Dr. Bauerstein. Ich glaube, Sie haben Recht mit Ihrer Einschätzung von dem Mann, Poirot. Ich kann ihn nicht leiden.»
«Er ist schlau», bemerkte Poirot in Gedanken versunken.
«Oh, ein ganz schlauer Teufel! Ich muss gestehen, dass ich mich über sein Missgeschick am Dienstag diebisch gefreut habe. Das hätten Sie sehen müssen!» Ich be-schrieb ihm das Abenteuer des Arztes. «Er sah wirklich wie eine Vogelscheuche aus! Von oben bis unten mit Schlamm bespritzt.»
«Sie haben ihn selbst gesehen?»
«Ja. Natürlich wollte er nicht reinkommen, es war direkt nach dem Abendessen, aber Mrs. Inglethorp bestand darauf.»
«Was?» Poirot packte mich heftig bei den Schultern. «Dr. Bauerstein war am Dienstagabend hier? Hier? Und Sie haben mir das nie gesagt? Warum? Warum?»
Er war völlig außer sich.
«Mein lieber Poirot», protestierte ich, «ich hätte nie gedacht, dass Sie das interessieren würde. Ich hielt es für nebensächlich.»
«Nebensächlich? Es ist von größter Bedeutung! Dr. Bauerstein war also am Dienstag hier — in der Mordnacht. Begreifen Sie denn nicht, Hastings? Das ändert alles — alles!»
Ich hatte ihn noch nie so aufgebracht erlebt. Er ließ meine Schultern wieder los, richtete mechanisch zwei Kerzen gerade und redete immer noch mit sich selbst: «Ja, das verändert alles — alles.»
Plötzlich schien er einen Entschluss gefasst zu haben.
«Allons!», sagte er. «Wir müssen sofort handeln. Wo ist Mr. Cavendish?»
John war im Herrenzimmer. Poirot ging direkt zu ihm.
«Mr. Cavendish, ich habe etwas Wichtiges in Tadmins-ter zu erledigen, es gibt eine neue Spur. Könnte ich Ihr Auto haben?»
«Selbstverständlich. Jetzt gleich?»