Wir waren inzwischen in Tadminster angekommen und Poirot wies dem Chauffeur den Weg zu dem chemischen Labor.
Poirot stieg eilig aus und ging hinein. Kurze Zeit später kam er wieder zurück.
«So, das hätten wir erledigt.»
«Was haben Sie denn dort gewollt?», fragte ich neugierig.
«Ich hab ihnen etwas zum Analysieren gebracht.»
«Ja, aber was?»
«Den Kakaorest aus dem Topf im Schlafzimmer.»
«Aber der ist doch schon untersucht worden!», rief ich verblüfft aus. «Dr. Bauerstein hat ihn untersucht und Sie selbst haben die Möglichkeit, dass er Strychnin enthalten könnte, als lächerlich abgetan.»
«Ich weiß, dass Dr. Bauerstein ihn untersucht hat», erwiderte Poirot ruhig.
«Ja, und?»
«Ich wollte ihn einfach noch einmal untersuchen lassen, das ist alles.»
Danach konnte ich ihm kein weiteres Wort mehr zu dem Thema entlocken.
Was Poirot mit dem Kakao vorhatte, war mir rätselhaft. Ich konnte mir darauf überhaupt keinen Reim machen. Nachdem ich zwischenzeitlich kurz an ihm gezweifelt hatte, vertraute ich ihm nun wieder völlig, seitdem sich sein Glaube an Alfred Inglethorps Unschuld auf so triumphale Weise bestätigt hatte.
Die Beerdigung von Mrs. Inglethorp fand am folgenden Tag statt. Als ich am Montag zu einem späten Frühstück herunterkam, nahm mich John beiseite und teilte mir mit, dass Mr. Inglethorp an diesem Morgen ausziehen, und bis alles geregelt sei, im Gasthaus logieren würde.
«Sein Auszug ist wirklich eine große Erleichterung, Hastings», gestand mir mein Freund. «Es war schon vorher schlimm genug, als wir ihn alle für den Täter hielten, aber seltsamerweise ist es jetzt noch schlimmer, weil wir alle Schuldgefühle haben, dass wir dem Kerl so bereitwillig die Tat zugetraut hatten. Wir haben ihn wirklich scheußlich behandelt. Natürlich sprach erst alles gegen ihn, und man kann uns eigentlich kaum vorwerfen, dass wir voreilige Schlüsse zogen. Wie dem auch sei — wir hat-ten Unrecht, und nun müssten wir unseren Irrtum eigentlich wieder gutmachen, aber da wir den Kerl immer noch nicht leiden können, ist das sehr schwierig. Die ganze Geschichte ist kolossal unangenehm! Ich bin ihm dankbar, dass er sich nun taktvoll vom Acker macht. Nur gut, dass unsere Mutter ihm nicht Styles hinterlassen konnte. Die Vorstellung, dass er hier den Herrn spielt, wäre mir unerträglich. Ihr Geld soll er ruhig erben.»
«Kannst du denn den Besitz auch so erhalten?», fragte ich.
«Doch, ja. Da ist natürlich die Erbschaftssteuer, aber die Hälfte von Vaters Vermögen ist an den Besitz gebunden und Lawrence wird zunächst hier wohnen bleiben. Also steht auch noch sein Anteil zur Verfügung. Erst mal werden wir natürlich sparen müssen, weil ich dir ja schon sagte, dass ich ein bisschen in der Klemme stecke. Aber der Gerichtsvollzieher kommt nun nicht.»
In Anbetracht von Inglethorps baldigem Auszug herrschte allgemeine Erleichterung und so war es das angenehmste Frühstück seit der Tragödie. Bei Cynthia bewirkte ihre unbekümmerte jugendliche Fröhlichkeit, dass sie wieder so hübsch wie sonst immer aussah, und wir alle waren ziemlich heiter bei der Aussicht auf eine neue und hoffnungsvolle Zukunft — mit Ausnahme von Lawrence, der immer noch niedergeschlagen und nervös wirkte.
Die Zeitungen hatten selbstverständlich lang und breit über die Tragödie berichtet. Dicke Schlagzeilen, Kurzbiographien von allen Familienmitgliedern, subtile Andeutungen, die üblichen Hinweise, dass die Polizei einem bestimmten Verdacht nachginge. Da es momentan über den Krieg nichts Neues zu berichten gab, herrschte Sau-re-Gurken-Zeit, und die Zeitungen hatten sich gierig auf dieses Verbrechen in höchsten Kreisen gestürzt: «Der geheimnisvolle Mord in Styles» war Thema des Tages.
Natürlich war das für die Cavendishs sehr unangenehm. Das Haus wurde ständig von Reportern belagert, denen zwar der Zutritt verwehrt wurde, die sich aber im Dorf und im Park herumtrieben und dort mit ihren Kameras unvorsichtigen Familienmitgliedern auflauerten. Wir standen im Scheinwerferlicht der Öffentlichkeit. Die Männer von Scotland Yard kamen und gingen, verhörten, befragten, suchten mit Luchsaugen und verrieten nichts. Wir wussten nicht, worauf sie hinarbeiteten. Hatten sie eine Spur oder würde alles in dem Archiv für ungelöste Fälle landen?
Nach dem Frühstück kam Dorcas ziemlich geheimnisvoll zu mir und fragte, ob sie kurz mit mir reden könnte.
«Selbstverständlich. Worum geht es denn, Dorcas?»
«Na ja, es ist nur eine Kleinigkeit, Sir. Sie sehen doch heute noch den belgischen Herrn, nicht wahr?»
Ich nickte.
«Also, Sir, wissen Sie noch, wie er mich so genau danach ausfragte, ob Mrs. Inglethorp oder sonst irgendwer ein grünes Kleid besäße?»
«Ja, sicher. Haben Sie eins gefunden?» Mein Interesse war geweckt.
«Nein, das nicht, Sir. Aber mir ist danach eingefallen, dass wir etwas haben, das die jungen Herrn» — für Dorcas waren John und Lawrence immer noch die jungen Herren — «die Verkleidungskiste nennen. Die ist oben auf dem vorderen Dachboden, Sir. Eine große Truhe voll mit alten Kleidern und Kostümen und allem möglichen Kram. Und plötzlich kam mir der Gedanke, dass da auch ein grünes Kleid dabei sein könnte. Wenn Sie also dem belgischen Herrn das bitte bestellen wollten —»
«Ich werde es ihm sagen, Dorcas», versprach ich.
«Vielen Dank auch, Sir. Er ist wirklich sehr nett, Sir, ganz anders als diese zwei Kriminalbeamten aus London, die überall ihre Nase reinstecken und einen ausfragen. Im Allgemeinen kann ich Ausländer ja nicht besonders gut leiden, aber nach dem, was die Zeitungen schreiben, ist mir klar geworden, dass er kein gewöhnlicher Ausländer ist, und ganz gewiss ist er ein sehr höflicher Herr.»
Gute alte Dorcas! Als sie so dastand und ich in ihr ehrliches Gesicht sah, wurde mir bewusst, dass sie ein Prachtexemplar dieser altmodischen Dienstboten war, die man heutzutage leider kaum noch findet.
Mir fiel ein, dass ich genauso gut auch gleich ins Dorf gehen und Poirot besuchen konnte, aber ich begegnete ihm auf halbem Weg, da er gerade nach Styles wollte, und übermittelte ihm gleich Dorcas' Botschaft.
«Ach, die brave Dorcas! Wir werden uns diese Truhe mal ansehen, obwohl — na, egal — wir werden sie uns trotzdem anschauen.»
Wir betraten das Haus durch eine der Terrassentüren. Da niemand in der Halle war, gingen wir gleich auf den Dachboden hinauf.
Und richtig, da stand die Truhe, ein schönes, altes, mit Messingnägeln beschlagenes Möbelstück, bis zum Rand mit allen nur vorstellbaren Kleidungsstücken gefüllt.
Poirot griff ohne Umstände hinein und holte eins nach dem anderen heraus. Es gab ein paar Gewänder in verschiedenen Grüntönen, aber Poirot schüttelte jedes Mal den Kopf. Anscheinend maß er der Suche keine besondere Bedeutung bei, als ob er sich davon nichts Besonderes versprechen würde, doch plötzlich stieß er einen Ausruf des Erstaunens aus.
«Was ist denn?»
«Da!»
Die Truhe war fast leer und dort, auf ihrem Boden, lag ein prächtiger schwarzer Bart.
«Oho!», sagte Poirot. «Oho!» Er nahm ihn in die Hände und betrachtete ihn aus nächster Nähe.
«Neu», bemerkte er. «Ja, der ist ganz neu.»
Er zögerte kurz, doch dann legte er ihn in die Truhe zurück und häufte alle andern Sachen wieder darüber. Danach ging er rasch nach unten, direkt zum Anrichteraum, wo Dorcas das Silber polierte.
Poirot wünschte ihr mit gallischer Höflichkeit guten Morgen und sagte dann: «Wir haben den Inhalt der Truhe untersucht. Ich bin Ihnen sehr dankbar, dass Sie uns davon erzählt haben. Da haben Sie ja wirklich ein schönes Sammelsurium an Kostümen. Darf ich fragen, ob die oft benutzt werden?»
«Nein, Sir, jetzt nicht mehr sehr oft. Ab und zu veranstalten die jungen Herren etwas, was sie ein Kostümfest nennen. Und da geht es manchmal wirklich sehr lustig zu, Sir. Mr. Lawrence ist wundervoll! Sehr witzig. Ich werde nie den Abend vergessen, wo er als Schah von Persien ankam — jedenfalls hat er sich so genannt, irgend so ein orientalischer König. Er hatte einen großen Brieföffner in der Hand und sagte: <Gib nur Acht, Dorcas, du musst jetzt sehr respektvoll sein. Das hier ist mein scharf geschliffener Simitar, und wenn ich mit dir unzufrieden bin, wirst du einen Kopf kürzer gemacht!> Miss Cynthia hatte sich als Gangster verkleidet, die sah vielleicht aus! Sie hätten nie gedacht, dass eine hübsche junge Dame sich in einen solchen Strolch verwandeln könnte. Sie war überhaupt nicht wieder zu erkennen.»