«Und das wäre?»
«Sie sollen aufpassen!»
Evelyn Howard neigte den Kopf.
«Ja, das kann ich nicht abschlagen. Ich passe immer auf — ich hoffe ständig, dass ich nicht Recht habe.»
«Wenn wir uns irren, dann ist es auch gut», sagte Poirot. «Keiner würde sich darüber mehr freuen als ich. Aber wenn wir uns nicht irren? Wenn wir Recht behalten, auf wessen Seite stehen Sie dann, Miss Howard?»
«Ich weiß nicht, ich weiß nicht.»
«Sagen Sie schon!»
«Man könnte doch Gras drüber wachsen lassen.»
«Das darf nicht geschehen.»
«Aber Emily selbst —» Sie brach ab.
«Miss Howard», sagte Poirot streng. «Das ist Ihrer unwürdig.»
Plötzlich nahm sie die Hände von ihrem Gesicht.
«Ja», sagte sie leise, «das war nicht Evelyn Howard, die da sprach!» Sie warf stolz den Kopf hoch. «Das ist Evelyn Howard. Und die steht auf der Seite der Gerechtigkeit! Koste es, was es wolle.» Und mit diesen Worten verließ sie entschlossen das Zimmer.
«Da geht eine sehr wertvolle Verbündete», sagte Poirot und schaute ihr nach. «Diese Frau, Hastings, hat sowohl Hirn als auch Herz.»
Ich schwieg.
«Instinkt ist eine wundervolle Sache», sinnierte Poirot. «Man kann ihn weder erklären noch ignorieren.»
«Sie und Miss Howard scheinen ja zu wissen, wovon Sie reden», bemerkte ich kühl. «Vielleicht haben Sie übersehen, dass ich immer noch nichts weiß.»
«Wirklich? Stimmt das, mon ami?»
«Ja. Erklären Sie mir, was los ist, ja?»
Poirot musterte mich aufmerksam. Dann schüttelte er zu meiner Überraschung entschieden den Kopf.
«Nein, mein Freund.»
«Na, hören Sie mal, warum denn nicht?»
«Zwei sind genug für ein Geheimnis.»
«Ich finde es ausgesprochen unfair, mir Tatsachen vorzuenthalten.»
«Ich enthalte Ihnen nichts vor. Alle mir bekannten Tatsachen sind auch Ihnen bekannt. Sie können daraus Ihre Schlüsse ziehen. Diesmal ist es eher eine Frage von Inspiration.»
«Ich würde es trotzdem gern erfahren.»
Poirot sah mich ernst an und schüttelte wieder den Kopf.
«Sehen Sie», sagte er traurig, «Sie haben leider keinen Instinkt.»
«Vorhin hatten Sie noch Intelligenz gefordert», erinnerte ich ihn.
«Die zwei arbeiten oft Hand in Hand», sagte Poirot vieldeutig.
Diese Bemerkung erschien mir so völlig irrelevant, dass ich mir nicht mal die Mühe einer Antwort machte. Aber ich beschloss bei mir, falls ich irgendwelche interessanten und wichtigen Entdeckungen machte, sie für mich zu behalten und Poirot dann mit dem endgültigen Ergebnis zu überraschen.
Es gibt Zeiten, da muss man seinen eigenen Weg gehen.
Neuntes Kapitel
Dr. Bauerstein
Ich hatte bislang keine Gelegenheit gehabt, Lawrence Poirots Botschaft zu überbringen. Aber als ich jetzt verärgert über die Selbstherrlichkeit meines Freundes draußen über den Rasen schlenderte, sah ich, wie Lawrence auf dem Krocketplatz ziellos ein paar alte Bälle mit einem noch älteren Schläger über den Rasen schlug.
Ich fand die Gelegenheit günstig, die Botschaft auszurichten. Sonst würde Poirot am Ende die Angelegenheit noch selbst in die Hand nehmen. Ich begriff zwar immer noch nicht, was das Ganze sollte, aber ich bildete mir ein, dass ich durch Lawrence' Antwort und vielleicht noch ein kleines Kreuzverhör meinerseits bald dahinter käme. Also sprach ich ihn an.
«Ich habe dich gesucht», sagte ich nicht wahrheitsgemäß.
«Ach ja?»
«Ja. Um die Wahrheit zu sagen, ich soll dir etwas ausrichten — von Poirot.»
«Ja?»
«Er bat mich zu warten, bis ich dich allein anträfe.» Ich senkte meine Stimme bedeutungsvoll und beobachtete ihn aufmerksam aus dem Augenwinkel. Ich hatte schon immer ein besonderes Talent für das so genannte Kreieren einer Atmosphäre.
«Und?»
Der Ausdruck in dem melancholischen Gesicht hatte sich nicht verändert. Ahnte er vielleicht schon, was ich sagen würde?
«Ich soll dir Folgendes ausrichten», ich sprach noch leiser. «Finde die überzählige Kaffeetasse und du brauchst dir keine Sorgen mehr zu machen.»
«Was in aller Welt meint er damit?» Lawrence starrte mich in ungekünsteltem Erstaunen an.
«Weißt du es nicht?»
«Nicht im Geringsten. Du?»
Ich schüttelte gezwungenermaßen denn Kopf.
«Welche übrige Kaffeetasse?»
«Ich weiß es nicht.»
«Er sollte sich lieber an Dorcas oder an eins der Hausmädchen wenden, wenn er etwas wegen Tassen wissen will. Ich weiß überhaupt nichts über Tassen, außer dass wir welche haben, die nie benutzt werden, die einfach unglaublich schön sind. Altes Worcester-Geschirr. Du bist kein Kenner, was, Hastings?»
Ich verneinte.
«Dann entgeht dir eine Menge. Es ist eine schiere Freude, schönes altes Porzellan anzufassen oder auch nur anzuschauen.»
«Hm. Was soll ich Poirot sagen?»
«Sag ihm, ich weiß nicht, wovon er redet. Ich hätte nicht die geringste Ahnung.»
«Gut, das werde ich ausrichten.»
Ich ging wieder in Richtung Haus, als er mich plötzlich zurückrief: «Sag doch bitte, wie hieß das Ende der Nachricht? Würdest du das doch noch einmal wiederholen?»
«Finde die überzählige Kaffeetasse und dann kannst du ganz beruhigt sein. Weißt du ganz sicher nicht, was das bedeutet?»
Er schüttelte den Kopf. «Nein», sagte er nachdenklich. «Leider nein. Ich wünschte, ich wüsste es.»
Vom Haus her ertönte der Gong und wir gingen zusammen hinein. Poirot war von John zum Lunch eingeladen worden und saß bereits am Tisch.
In stillschweigender Übereinkunft vermieden wir jede Erwähnung der Tragödie. Wir unterhielten uns über den Krieg und andere Themen. Aber nachdem der Käse herumgereicht worden war und Dorcas den Raum verlassen hatte, wandte sich Poirot plötzlich Mrs. Cavendish zu.
«Verzeihen Sie, Madame, dass ich an unerfreuliche Themen rühre, aber ich hatte einen kleinen Einfall» — Poirots kleine Einfälle wurden langsam zu einem feststehenden Begriff — «und würde Ihnen gern ein oder zwei Fragen stellen.»
«Mir? Gern.»
«Sie sind zu liebenswürdig, Madame. Ich möchte Sie Folgendes fragen: Sie sagen, die Tür von Mrs. Inglethorps Zimmer zu dem von Mademoiselle Cynthia war verriegelt, nicht wahr?»
«Sie war ganz bestimmt verriegelt», erwiderte Mary Ca-vendish ziemlich überrascht. «Das habe ich bei der Untersuchung ausgesagt.»
«Verriegelt?»
«Ja.» Sie sah verwirrt aus.
«Worauf ich hinaus will — Sie sind sicher, dass sie verriegelt war und nicht nur verschlossen?»
«Oh, jetzt verstehe ich, was Sie meinen. Nein, da bin ich mir nicht sicher. Ich meinte mit verriegelt, dass sie sich nicht öffnen ließ, aber soweit ich weiß, wurde festgestellt, dass alle Türen von innen verriegelt waren.»
«Aber was Sie betrifft, hätte die Tür auch nur abgeschlossen sein können?»
«Ja.»
«Sie haben bei Ihrem Betreten von Mrs. Inglethorps Zimmer nicht zufällig bemerkt, ob diese Tür verriegelt war oder nicht?»
«Ich — ich glaube, sie war verriegelt.»
«Aber Sie haben es nicht gesehen?»
«Nein. Ich — ich habe nicht nachgeschaut.»
«Aber ich habe nachgeschaut», schaltete sich Lawrence plötzlich ein. «Ich habe zufälligerweise gesehen, dass sie verriegelt war.»
«Ah, dann wäre das ja geklärt.» Poirot sah niedergeschlagen aus.
Ich verspürte eine gewisse Schadenfreude, dass endlich einmal eine seiner kleinen Ideen nichts getaugt hatte.