Aber als ich am nächsten Morgen früh hinunterkam, wurde die Verhaftung in den Zeitungen mit keiner Silbe erwähnt! Es gab eine Spalte mit lauter Wiederholungen über den «Giftmord in Styles», aber nichts sonst. Das war ziemlich rätselhaft, doch ich vermutete, dass Japp aus irgend einem Grund die Sache aus den Zeitungen heraushalten wollte. Das machte mir einiges Kopfzerbrechen, denn daraus konnte man schließen, dass es noch zu weiteren Verhaftungen kommen würde.
Nach dem Frühstück beschloss ich ins Dorf zu gehen und nachzusehen, ob Poirot schon wieder zurück war, aber da erschien auf einmal ein wohl bekanntes Gesicht vor einem der Fenster und eine wohl bekannte Stimme sagte:
«Bonjour, mon ami!»
«Poirot!», rief ich erleichtert aus, ergriff seine beiden Hände und zog ihn ins Zimmer. «Noch nie habe ich mich so über den Anblick von jemandem gefreut. Ich habe zu niemandem etwas gesagt außer zu John, war das richtig?»
«Mein Freund», erwiderte Poirot, «ich weiß nicht, wovon Sie reden.»
«Von Bauersteins Verhaftung, das ist doch klar.»
«Wurde Bauerstein also verhaftet?»
«Wussten Sie das nicht?»
«Ich hatte nicht die geringste Ahnung.» Aber dann fügte er hinzu: «Obwohl es mich nicht überrascht. Schließlich sind wir hier nur vier Meilen von der Küste entfernt.»
«Die Küste?», fragte ich verwirrt. «Was hat die denn damit zu tun?»
Poirot zuckte die Achseln. «Das ist doch wohl sonnenklar!»
«Mir nicht. Zweifellos bin ich sehr dumm, aber ich verstehe nicht, was die Nähe der Küste mit dem Mord an Mrs. Inglethorp zu tun haben soll.»
«Natürlich nichts», erwiderte Poirot lächelnd. «Aber wir sprachen doch gerade von der Verhaftung Dr. Bauersteins.»
«Aber wenn er nicht wegen des Mordes an Mrs. Inglethorp verhaftet wurde.»
«Was?», rief Poirot erstaunt aus. «Dr. Bauerstein wurde wegen des Mordes an Mrs. Inglethorp verhaftet?»
«Ja.»
«Unmöglich! Das wäre doch absolut lächerlich! Wer hat Ihnen das erzählt, mein Freund?» «Das hat mir niemand so erzählt», gestand ich. «Aber er wurde verhaftet.»
«Oh ja, höchstwahrscheinlich. Aber wegen Spionage, mon ami.»
«Spionage?» Das verschlug mir den Atem.
«Ganz recht.»
«Nicht wegen des Mordes an Mrs. Inglethorp?»
«Nur wenn unser Freund Japp völlig verrückt geworden ist», erwiderte Poirot gelassen.
«Aber ich glaubte, Sie hätten das auch gedacht?»
Poirot sah mich mitleidig an, als sei er überrascht, wie ich auf eine so gänzlich absurde Idee gekommen sein konnte.
«Wollen Sie damit sagen», langsam gewöhnte ich mich an diese völlig neue Vorstellung, «dass Dr. Bauerstein ein Spion ist?»
Poirot nickte.
«Haben Sie denn niemals Verdacht geschöpft?»
«Das ist mir nie in den Kopf gekommen.»
«Sie fanden es nicht seltsam, dass ein berühmter Londoner Arzt sich in so einem kleinen Dorf vergraben hatte und die Gewohnheit hatte, zu den merkwürdigsten Nachtstunden herumzuspazieren?»
«Nein», gestand ich, «darüber habe ich nie nachgedacht.»
«Er ist deutscher Abstammung», meinte Poirot nachdenklich. «Er praktiziert aber schon so lange hier in diesem Land, dass alle ihn für einen Engländer halten. Vor fünfzehn Jahren wurde er englischer Staatsbürger. Ein sehr kluger Mann — natürlich ein Jude.»
«So ein Schurke!», rief ich empört aus.
«Aber nein. Ganz im Gegenteil — er ist ein Patriot. Denken Sie doch nur, was er nun verlieren wird. Ich bewundere diesen Mann.»
Aber ich konnte die Dinge nicht mit demselben Gleichmut betrachten wie Poirot.
«Und mit diesem Mann ist Mrs. Cavendish überall herumgewandert!», rief ich empört.
«Ja. Er wird sie wohl sehr nützlich gefunden haben», bemerkte Poirot. «Solange der Klatsch ihre beiden Namen zusammenbrachte, blieben alle anderen Aktivitäten des Doktors unbemerkt.»
«Dann glauben Sie, dass er niemals etwas für sie empfunden hat?», fragte ich eifrig — unter den gegebenen Umständen vermutlich etwas zu eifrig.
«Darüber kann ich mir natürlich kein Urteil erlauben, aber soll ich Ihnen meine persönliche Meinung dazu sagen, Hastings?»
«Ja.»
«Also ich würde es so sehen: Mrs. Cavendish hat sich niemals auch nur das kleinste Bisschen aus Dr. Bauerstein gemacht!»
«Glauben Sie wirklich?» Ich konnte meine Freude nicht völlig verbergen.
«Ich bin mir da ganz sicher. Und ich sage Ihnen auch, warum.»
«Ja?»
«Weil sie jemand anderen liebt, mon ami.»
«Oh!» Was meinte er damit? Ganz gegen meinen Willen durchflutete mich eine angenehme Wärme. Ich bin im Hinblick auf Frauen nicht eitel, aber ich erinnerte mich an ein paar Vorfälle, die ich damals möglicherweise nicht richtig eingeschätzt hatte, die aber gewiss anzudeuten schienen.
Meine Träumereien wurden durch das plötzliche Erscheinen von Miss Howard unterbrochen. Sie sah rasch nach allen Seiten, um sich zu vergewissern, dass niemand sonst im Zimmer war, und holte dann schnell einen alten Bogen Packpapier hervor. Das reichte sie Poirot, während sie die geheimnisvollen Worte murmelte:
«Oben auf dem Schrank.» Dann verließ sie eilig wieder den Raum.
Poirot faltete das Papier neugierig auseinander und stieß einen Laut der Befriedigung aus. Er breitete den Bogen auf dem Tisch aus.
«Kommen Sie her, Hastings. Jetzt sagen Sie mir, was ist das für ein Buchstabe, ein J oder ein L?»
Das Blatt war von mittlerer Größe, ziemlich staubig, als ob es schon längere Zeit herumgelegen hätte. Aber es war der Aufkleber, der Poirots Aufmerksamkeit fesselte. Oben war der Stempel der Firma Parkson, des berühmten Theaterkostümverleihs, und die Anschrift lautete:« — (der unklare Buchstabe) Cavendish, Styles Court, Styles St, Mary, Essex.»
«Es könnte ein T sein. Oder vielleicht ein L», sagte ich, nachdem ich das Papier kurz studiert hatte. «Ganz gewiss ist es kein J.»
«Gut.» Poirot faltete den Bogen wieder zusammen. «Ich denke wie Sie. Es ist ein L, verlassen Sie sich darauf!»
«Wo kam das her?», fragte ich neugierig. «Ist das wichtig?»
«Nicht besonders. Es bestätigt nur eine meiner Hypothesen. Ich war von seiner Existenz überzeugt und setzte Miss Howard darauf an, und wie Sie sehen, war sie erfolgreich.»
«Was meinte sie mit <oben auf dem Schrank)?»
«Sie meinte», erwiderte Poirot prompt, «dass sie es oben auf einem Schrank gefunden hat.» «Ein seltsamer Ort für einen Bogen Packpapier», überlegte ich.
«Aber nein. Oben auf einem Schrank ist eine sehr gute Ablage für Packpapier und Pappschachteln. Ich bewahre dort auch welche auf. Ordentlich aufeinander gestellt sind sie kein störender Anblick.»
«Poirot, wissen Sie schon, wer dieses Verbrechen begangen hat?», fragte ich ihn ernsthaft.
«Ja — das heißt, ich glaube, ich weiß, wie es geschehen ist.»
«Aha!»
«Leider habe ich außer meiner Annahme keinerlei Beweise bis auf.» Plötzlich ergriff er meinen Arm, zog mich energisch bis zur Halle und rief aufgeregt auf Französisch: «Mademoiselle Dorcas, Mademoiselle Dorcas, un moment, s'il vousplatt!»
Dorcas kam aufgeschreckt durch den Lärm aus dem Anrichtezimmer herbeigelaufen.
«Meine gute Dorcas, ich habe eine Idee — eine kleine Idee —, und falls sie sich als richtig herausstellt, wäre das ein Riesenglück! Sagen Sie mir, war am Montag, nicht am Dienstag, Dorcas, am Montag irgendetwas mit der Klingel von Mrs. Inglethorp nicht in Ordnung?»
Dorcas sah sehr überrascht aus.
«Ja, Sir, jetzt, wo Sie es sagen, die Klingel war kaputt, obwohl ich nicht weiß, wie Sie das wissen können. Eine Maus oder irgend so was muss das Kabel durchgenagt haben. Der Handwerker kam am Dienstagmorgen und hat sie repariert.»