«Was wäre das?», fragte ich.
«Sie haben mir nicht gesagt, ob Mrs. Inglethorp gestern gut zu Abend gegessen hat.»
Ich starrte ihn an. Bestimmt hatte der Verstand des kleinen Mannes durch den Krieg gelitten. Er war gerade mit dem Abbürsten seines Jacketts beschäftigt und schien völlig in diese Tätigkeit versunken.
«Ich kann mich nicht mehr erinnern», sagte ich. «Außerdem sehe ich nicht, was.»
«Das sehen Sie nicht? Aber das ist außerordentlich wichtig.»
«Ich wüsste nicht, warum», sagte ich ziemlich pikiert. «Soweit ich mich erinnere, aß sie nicht viel. Sie war ganz offensichtlich aufgebracht und hatte deshalb keinen Appetit. Das war doch nur natürlich.»
«Ja», sagte Poirot nachdenklich, «das war nur natürlich.»
Er öffnete eine Schublade, nahm eine kleine Aktentasche heraus und drehte sich wieder zu mir um.
«Jetzt bin ich fertig. Wir werden zum chateau gehen und uns alles an Ort und Stelle ansehen. Entschuldigen Sie, mon ami, Sie haben sich in Eile angekleidet und Ihre Krawatte sitzt schief. Gestatten Sie.» Mit einer geschickten Bewegung rückte er sie gerade.
«Pay est! So, können wir?»
Wir eilten durch das Dorf und bogen beim Parktor ab. Poirot blieb einen Augenblick lang stehen und ließ seinen Blick traurig über den schönen Park schweifen, in dem noch der Morgentau funkelte.
«So herrlich, so schön, aber da gibt es die bedauernswerte Familie, in tiefe Trauer gestürzt, vom Kummer gebeugt.»
Er betrachtete mich während dieser Worte aufmerksam und ich merkte, wie ich unter diesem anhaltenden Blick rot wurde.
War die Familie vom Kummer gebeugt? War ihre Trauer über Mrs. Inglethorps Tod so tief? Da erst wurde mir bewusst, dass im Haus keine Trauer geherrscht hatte. Die Tote hatte nicht die Gabe besessen, bei anderen Liebe zu erwecken. Ihr Tod war ein Schock und ein Unglück, aber sie würde nicht leidenschaftlich betrauert werden.
Poirot schien meinen Gedanken gefolgt zu sein. Er nickte ernst.
«Nein, Sie haben Recht, es ist nicht so, als gäbe es da Blutsbande. Sie war freundlich und großzügig zu diesen Cavendishes, aber sie war nicht ihre richtige Mutter. Blutsbande sind verräterisch — denken Sie immer daran — Blutsbande sind verräterisch.»
«Poirot, ich wünschte, Sie würden mir sagen, warum Sie wissen wollten, ob Mrs. Inglethorp gestern Abend viel gegessen hat. Ich grübele und grübele, aber ich sehe keinen Zusammenhang mit dem, was passiert ist.»
Er schwieg, während wir weitergingen, und sagte schließlich: «Ich werde es Ihnen sagen, obwohl Sie ja wissen, dass es meine Gewohnheit ist, Erklärungen erst am Ende eines Falles abzugeben. Die momentane Streitfrage ist doch, ob Mrs. Inglethorp an einer Strychninvergiftung gestorben ist und dass ihr das Gift wahrscheinlich im Kaffee verabreicht wurde.»
«Ja?»
«Um wie viel Uhr wurde denn der Kaffee serviert?»
«So gegen acht.»
«Dann hat sie ihn also zwischen acht und halb neun getrunken — bestimmt nicht später. Aber Strychnin ist ein ziemlich schnell wirkendes Gift. Die Wirkung wäre rasch eingetreten, wahrscheinlich eine Stunde später. Doch bei Mrs. Inglethorp zeigten sich die Symptome erst um fünf Uhr am nächsten Morgen: neun Stunden später! Wenn sie nun zur selben Zeit mit dem Gift eine schwere Mahlzeit eingenommen hätte, wäre die Wirkung zwar verzögert worden, aber wohl kaum in diesem Ausmaß. Doch die Möglichkeit muss immerhin in Betracht gezogen werden. Nach Ihrer Beobachtung aß sie am Abend aber nur sehr wenig — und trotzdem zeigten sich die Symptome erst am nächsten Morgen! Das ist doch wirklich höchst sonderbar, mein Freund. Vielleicht kann die Autopsie ja eine Erklärung dafür liefern. In der Zwischenzeit werden wir es im Gedächtnis behalten.»
Als wir uns dem Haus näherten, kam John uns entgegen. Er sah müde und verhärmt aus.
«Das ist eine ganz schreckliche Angelegenheit, Monsieur Poirot. Hastings hat Ihnen bereits deutlich gemacht, dass wir in der Angelegenheit möglichst kein Aufsehen wollen?»
«Das verstehe ich völlig.»
«Sie sehen ja, bisher ist es nur ein Verdacht. Wir haben keinerlei Beweise.»
«Ich verstehe. Eine reine Vorsichtsmaßnahme.»
John wandte sich mir zu, holte ein Zigarettenetui hervor und zündete sich eine Zigarette an.
«Du weißt bereits, dass Inglethorp zurück ist?»
«Ja. Ich habe ihn getroffen.»
John schnippte das Streichholz auf das Blumenbeet neben uns. So etwas konnte Poirot nicht mit ansehen. Er hob es auf und verscharrte es sorgsam.
«Ich weiß überhaupt nicht, wie ich mich ihm gegenüber verhalten soll.»
«Diese Unsicherheit wird bald zu Ende sein», kündigte Poirot an.
John sah verwirrt drein, er verstand nicht, was sich hinter diesen rätselhaften Worten verbarg. Er händigte mir die zwei Schlüssel aus, die Bauerstein ihm gegeben hatte.
«Zeig Monsieur Poirot alles, was er sehen will.»
«Sind die Zimmer abgeschlossen?», fragte Poirot.
«Dr. Bauerstein fand das ratsam.»
Poirot nickte nachdenklich.
«Dann ist er sich seiner Sache sehr sicher. Na, das vereinfacht die Dinge für uns.»
Wir gingen zusammen zu dem Zimmer, in dem sich die Tragödie abgespielt hatte. Zur allgemeinen Verständlichkeit füge ich einen Plan des Zimmers und seiner wichtigsten Möbelstücke bei.
Poirot schloss die Tür von innen ab und begann mit einer peinlich genauen Untersuchung. Er bewegte sich mit der Behändigkeit eines Grashüpfers von einem Gegenstand zum nächsten. Ich blieb bei der Tür stehen, da ich be-fürchtete, mögliche vorhandene Hinweise zu verwischen. Doch Poirot schien mir für meine Vorsicht nicht dankbar zu sein.
«Was haben Sie denn, mein Freund? Warum bleiben Sie da stehen wie ein — äh, wie sagt man? — ah ja, wie festgenagelt?»
Ich erklärte ihm, dass ich befürchtete, irgendwelche vorhandenen Fußspuren zu verwischen.
«Fußspuren? Was für ein Gedanke! Hier ist doch schon eine ganze Armee durchmarschiert! Welche Fußspuren könnte man da wohl noch finden? Nein, kommen Sie näher und helfen Sie mir bei meiner Suche. Ich stelle meine kleine Tasche jetzt ab, bis ich sie brauche.»
Er legte sie dann auf den runden Tisch am Fenster, aber das war unklug, denn die Platte lag nur lose auf und der Aktenkoffer fiel zu Boden.
«Et voila une table!», rief Poirot aus. «Ach, mein Freund, da lebt man nun in einem großen Haus und hat doch so wenig Komfort!»
Nach dieser tiefsinnigen Anmerkung setzte er seine Suche fort. Als Nächstes widmete er seine Aufmerksamkeit einem kleinen violetten Aktenkoffer, der mit dem Schlüssel im Schloss auf dem Schreibtisch stand. Er zog den Schlüssel aus dem Schloss und reichte ihn mir zur genaueren Inspektion. Ich konnte jedoch nichts Auffälliges daran feststellen. Es war ein ganz normaler Sicherheitsschlüssel, durch den ein Stückchen verbogener Draht gezogen war.
Danach untersuchte er den Rahmen der Tür, durch die wir eingedrungen waren, und vergewisserte sich, dass sie verriegelt gewesen war. Dann ging er zu der Tür gegenüber, die in Cynthias Zimmer führte. Diese Tür war auch verriegelt, wie ich bereits festgestellt hatte. Er machte sie jedoch mehrmals auf und zu und gab sich dabei größte Mühe, auch das noch so kleinste Geräusch zu vermeiden.
Plötzlich schien etwas am Riegel selbst seine Aufmerksamkeit zu fesseln. Er untersuchte ihn sorgfältig, zog dann geschickt eine Pinzette aus seinem Köfferchen und holte damit einen winzigen Gegenstand hervor, den er sorgfältig in ein kleines Kuvert tat, das er zuklebte.