Brutus konnte sehen, dass die Menge keinen Anführer hatte. Sie schubsten und stießen einander, aber es gab keinen, der über die Autorität verfügt hätte, sie gegen die Schwerter der Männer auf der Straße vor dem Laden zu schicken.
»Eins sage ich euch«, rief Brutus. »Ihr denkt, ihr seid hier sicher, Jungs? Wenn Cäsar aus Gallien zurückkehrt, findet er jeden Einzelnen der Männer, die seine Freunde bedroht haben. Das ist in Stein gemeißelt, meine Freunde. Jedes Wort. Ein paar von euch werden gewiss schon jetzt von ihm bezahlt. Sie werden Listen mit Namen für ihn bereithalten und wissen, wo man diejenigen findet. Da könnt ihr sicher sein. Und wenn er kommt, fährt er durch euch hindurch wie ein heißes Messer.«
Es war in der Dunkelheit schwer zu erkennen, aber Brutus hatte den Eindruck, als löse sich die Meute auf, als verdrückten sich diejenigen an den Rändern nach und nach in den Gassen. Eine Fackel wurde von ihrem Träger fallen gelassen und von einem anderen aufgehoben. Welche Macht Clodius auch über sie haben mochte, Julius’ Name war an jeder Straßenecke vorgelesen worden, und er wirkte auf diejenigen, die sich heimlich davonstahlen, wie ein Talisman.
Innerhalb kürzester Zeit sah sich Brutus nicht mehr als fünfzehn Mann gegenüber, zweifellos denjenigen, die Clodius damit beauftragt hatte, den Laden niederzubrennen. Keiner von ihnen durfte zurückweichen, es sei denn, er wollte am folgenden Morgen aus dem Bett gezerrt werden. Brutus sah, wie ihre Gesichter vor Schweiß zu glänzen anfingen, als sie bemerkten, wie rapide ihre Anzahl abnahm.
Brutus redete ruhig auf sie ein, denn er wusste, dass ihre Verzweiflung sie unberechenbar machte.
»An eurer Stelle würde ich die Stadt eine Zeit lang verlassen, Jungs. Ariminum ist weit genug entfernt, und dort gibt es im Hafen immer Arbeit für jemanden, der bereit ist, ein bisschen zu schwitzen.«
Der Großteil der Männer blickte ihn wütend, aber unentschlossen an. Es waren immer noch zu viele, als dass Brutus sich im Falle eines Angriffs eine echte Chance ausgerechnet hätte. Ihre Klingen warfen das Licht der Fackeln zurück, und in den harten Gesichtern war kein Anzeichen von Schwäche zu erkennen. Er blickte kurz nach links und rechts und sah die Anspannung der Männer neben sich.
»Kein Wort, Jungs«, murmelte Brutus. »Jetzt bloß nichts auslösen.«
Mit einem angewiderten Schnauben warf einer der Fackelträger seine Fackel auf die Straße und stelzte davon. Zwei weitere folgten seinem Beispiel, und die anderen wechselten misstrauische Blicke. Dann gingen sie in Gruppen von zweien und dreien davon, bis nur noch eine Hand voll von ihnen zurückblieb.
»Wenn ich ein rachsüchtiger Mann wäre, wäre ich sehr versucht, euch auf der Stelle kurz und klein zu hacken«, sagte Brutus zu ihnen. »Ihr könnt nicht die ganze Nacht hier stehen bleiben.«
Einer der Kerle verzog das Gesicht.
»Clodius wird dich damit nicht einfach davonkommen lassen. Morgen früh wird er einen Mordskrach schlagen.«
»Gut möglich. Vielleicht habe ich die Gelegenheit, vorher mit ihm zu sprechen. Vielleicht ist er ja vernünftig.«
»Du kennst ihn wohl nicht, was?«, sagte der Mann und grinste. Brutus entspannte sich allmählich.
»Geht ihr jetzt nach Hause oder nicht? Es ist zu kalt, um noch länger hier draußen herumzustehen.«
Der Mann sah sich nach seinen letzten beiden Kumpanen um. »Ich gehe«, sagte er. »Stimmt es, was du gesagt hast?«
»Was meinst du?«, erwiderte Brutus und dachte an seine nicht existierenden Bogenschützen.
»Dass du ein Freund von Cäsar bist?«
»Wir sind wie Brüder«, sagte Brutus leichthin.
»Er ist ein guter Mann für Rom. Ein paar von uns hätten nichts dagegen, wenn er wieder zurückkommt. Zumindest diejenigen mit Familie.«
»Er wird nicht ewig in Gallien bleiben«, erwiderte Brutus.
Der Mann nickte, dann verschwand er mit seinen Freunden in der Dunkelheit.
36
Brutus nächtigte eine ganze Woche lang auf dem Boden der Werkstatt. Am Abend nach dem Überfall stattete er Clodius’ Haus in der Stadtmitte einen Besuch ab, fand es aber besser bewacht als jede Festung und mit bewaffneten Männern gespickt vor. Während die Tage vergingen, wurde seine Besorgnis nur noch größer. Es war, als hielte die Stadt den Atem an.
Obwohl Tabbic seinem Rat folgte und seine Familie von seinem Laden fernhielt, wurde Alexandria mit jedem Tag gereizter, an dem sie gezwungen war, auf dem harten Boden zu schlafen. Alles, was sie besaß, steckte in den neuen Räumen, von den Wänden über das Dach bis hin zu den Vorräten aus Edelmetall und den gewaltigen Schmiedeöfen. Sie würde ihr Hab und Gut nicht verlassen, und Brutus konnte nicht in den Norden zurück, solange er sie in Gefahr glaubte.
Die jungen Männer, die ihnen gegen die Eintreiber beigestanden hatten, blieben ebenfalls. Tabbic hatte ihnen einen kleinen Lohn als Wachen angeboten, aber sie wollten sein Geld nicht. Sie verehrten den silbernen Feldherrn, der sie um ihre Hilfe gebeten hatte, und im Gegenzug verbrachte Brutus jeden Tag ein paar Stunden damit, sie im Umgang mit ihren Schwertern zu unterrichten.
Gegen Mittag, wenn viele in der Stadt eine Mittagspause machten, dünnten die dichten Menschenmengen immer ein wenig aus. Zu dieser Zeit verließ Brutus mit einem oder zwei der jungen Männer das Haus, um Lebensmittel und Informationen zu beschaffen. Wenigstens konnten sie sich immer eine warme Mahlzeit auf den Schmiedeherden zubereiten, aber der übliche Tratsch auf den Märkten schien abgewürgt worden zu sein. Brutus schnappte bestenfalls hier und da ein paar Bruchstücke auf. Seine Mutter fehlte ihm in der Stadt. Ohne sie erfuhr er nichts davon, was in den Senatssitzungen vor sich ging, und allmählich kam er sich blind und hilflos vor, in einer Stadt, die sich Nacht für Nacht mehr anzuspannen schien.
Obwohl Pompeius nach Rom zurückgekommen war, kehrte keine Ordnung in den Straßen ein, schon gar nicht nach Einbruch der Dunkelheit. Mehr als einmal wurden Brutus und die anderen von gedämpften Geräuschen der Gewalt auf der Straße geweckt. Vom Dach aus konnten sie fernen Feuerschein erkennen, irgendwo im Labyrinth der Seitenstraßen und Gässchen. Die bewaffneten Banden unternahmen keinen zweiten Versuch, die Werkstatt anzugreifen, und Brutus befürchtete, dass ihre Herren mit ernsthafteren Kämpfen beschäftigt waren.
In der Mitte der zweiten Woche erzählte man sich auf allen Märkten, Clodius’ Raptores hätten das Haus des Redners Cicero überfallen und versucht, es ihm über dem Kopf anzuzünden. Der Mann konnte ihnen entwischen, aber es gab keinen öffentlichen Aufschrei gegen Clodius, was für Brutus ein weiteres Zeichen dafür war, dass Recht und Gesetz in dieser Stadt nicht mehr zählten. Seine Auseinandersetzungen mit Alexandria wurden immer hitziger, bis sie sich schließlich dazu bereit erklärte, das Ende der Krise auf Julius’ Landgut vor den Toren Roms abzuwarten. Die Stadt selbst verwandelte sich nachts immer mehr in ein Schlachtfeld, und die Werkstatt war das Leben seiner Schützlinge nicht wert. Für eine ehemalige Sklavin jedoch war der Laden das Symbol für alles, was sie erreicht hatte, und Alexandria weinte bitterlich darüber, dass sie ihn den Banden überlassen sollte.
Brutus wagte sich auf ihr Bitten hin zu Alexandrias Haus, um ein paar Kleidungsstücke zu holen, und kam mit Octavians Mutter Atia zurück, die sich der kleinen Gruppe anschloss, die sich bei Einbruch der Dunkelheit in der Werkstatt zusammendrängte.
Der junge Feldherr litt jeden Tag mehr unter der erzwungenen Untätigkeit. Wäre er allein gewesen, hätte er sich leicht der Legion des Pompeius in ihrer Kaserne anschließen können. So aber schien die Zahl derer, die sich Schutz von ihm erhofften, von Tag zu Tag größer zu werden. Tabbics Schwester hatte ihren Mann und die Kinder zu Tabbics drei kleinen Töchtern in die Sicherheit des Ladens gebracht. Die Familien der jungen Männer hatten ihre Gruppe weiter anwachsen lassen, und Brutus dachte mit Grauen daran, 27 Menschen durch die gewalttätige Stadt zu führen, selbst am helllichten Tag. Als der Senat eine allgemeine Ausgangssperre ab Sonnenuntergang verkündete, beschloss Brutus, dass er nicht länger warten konnte. Nur gesetzestreue Bürger schienen dem Erlass des Senats Folge zu leisten, auf die herumstreunenden Banden hatte er keine Wirkung, und noch in derselben Nacht wurde eine Nachbarstraße des Ladens angezündet. Erbärmliche Schreie hallten durch die Dunkelheit, bis sie irgendwann verstummten.