Clodia schüttelte den Kopf und wischte sich die Augen.
»Kurz vor ihrem Ende hat sie noch von dir gesprochen, und Julia war ihr ein großer Trost. Sie hat keine Schmerzen gehabt. Überhaupt keine.«
»Das freut mich«, sagte Julius leise. Lange Zeit war seine Mutter für ihn nur eine entfernte Gestalt gewesen, so dass es ihn jetzt selbst überraschte, wie sehr er es bedauerte, dass er sie nie wiedersehen, nie wieder an ihrem Bett sitzen würde, um ihr alles über Spanien und die Schlachten zu erzählen, die er miterlebt hatte. Wie oft war er zu ihr gekommen, um ihr zu berichten, was er mit seinem Leben angefangen hatte? Selbst als ihr die Krankheit den Verstand geraubt hatte, schien sie ihn noch zu hören, doch jetzt war niemand mehr da. Kein Vater, zu dem er kommen konnte, kein Tubruk, der über seine Fehler lachte, niemand mehr auf der ganzen Welt, der ihn bedingungslos liebte. Die Sehnsucht nach ihnen allen schmerzte.
»Wo ist Julia?«, fragte er und löste sich aus der Umarmung.
Clodias Gesicht veränderte sich, als Stolz und Liebe in ihren Zügen aufleuchteten. »Sie ist ausgeritten. Sie reitet so oft wie möglich mit ihrem Pony in den Wald. Sie sieht aus wie Cornelia, Julius. Sie hat das gleiche Haar, und manchmal, wenn sie lacht, ist es so, als seien die letzten dreißig Jahre gar nicht vergangen und sie wäre wieder hier bei mir.« Clodia sah, wie er sich versteifte, und deutete seine Anspannung falsch. »Ich lasse sie niemals alleine ausreiten. Zur Sicherheit hat sie immer zwei Bedienstete dabei.«
»Wird sie mich wiedererkennen?«, fragte Julius, dem plötzlich unbehaglich zumute wurde. Er schaute zum Tor, als könne allein die Erwähnung ihres Namens Julia herbeirufen. Er erinnerte sich nur an sehr wenig von der kleinen Tochter, die er damals in Clodias Obhut zurückgelassen hatte. Nur an ein zerbrechliches kleines Mädchen, das er getröstet hatte, als ihre Mutter in einem dunklen Raum aufgebahrt gewesen war. Die Erinnerung ihrer kleinen Arme um seinen Hals war plötzlich seltsam klar.
»Aber ganz bestimmt. Sie fragt mich immer nach allen möglichen Geschichten von dir, und ich habe ihr alles erzählt, was ich weiß.«
Clodias Blick glitt an ihm vorbei und fiel auf Octavian, der steif neben den Pferden stand.
»Octavian?«, fragte Clodia ungläubig. Sie wollte die Veränderung kaum glauben.
Bevor er sich noch dagegen wehren konnte, war sie schon zu ihm gerannt und drückte ihn fest an sich. Julius musste über sein offensichtliches Unbehagen grinsen.
»Wir haben Staub in der Kehle, Clodia. Willst du uns denn den ganzen Tag hier draußen herumstehen lassen?«
Clodia ließ den sich sträubenden Octavian los.
»Oh, natürlich. Gebt eure Pferde einem der Jungen da drüben. Ich gehe sofort in die Küche. Inzwischen sind nur noch ein paar Sklaven und ich übrig. Ohne Papiere, die mir Vollmacht erteilen, würden die Händler keine Geschäfte mit mir machen. Ohne Tubruk, der überall nach dem Rechten sieht, war es ...«
Julius wurde schamrot, weil Clodia wieder den Tränen nahe war. Jetzt erst wurde ihm klar, wie sträflich er seine Pflicht ihr gegenüber vernachlässigt hatte, und er wunderte sich über seine eigene Blindheit. Sie spielte die vielen entbehrungsreichen, arbeitsamen Jahre herunter, und zu seiner Schande musste er sich eingestehen, dass er ihr ihre Bürde tatsächlich hätte erleichtern können. Bevor er weggegangen war, hätte er Tubruk ersetzen und ihr die Verwaltung der Gelder übertragen sollen. Clodia schien plötzlich ganz verstört bei dem Gedanken, dass Julius jetzt das Haus sehen würde, das sie als ihr eigenes zu betrachten begonnen hatte. Beruhigend legte er ihr eine Hand auf den Arm.
»Mehr hätte ich nicht verlangen können«, sagte er.
Ihre Anspannung löste sich ein wenig. Während die Pferde zum Striegeln und Füttern weggeführt wurden, huschte Clodia vor den beiden Männern ins Haus. Julius schluckte trocken, als er den Hof verließ und die Räume seiner Kindheit betrat.
Kurz nachdem lautes Hufgetrappel Julias Rückkehr verkündet hatte, wurde das Mahl, das Clodia ihnen aufgetischt hatte, von einem reizenden, hellen Ruf von draußen unterbrochen. Julius hatte gerade den Mund voller Brot und Honig, sprang jedoch sofort auf und trat hinaus in die Sonne. Eigentlich hatte er sich vorgestellt, sie würde zu ihm hereinkommen und ihn förmlich begrüßen, doch beim Klang ihrer Stimme hatte seine Geduld ein Ende. Er konnte unmöglich noch länger auf sie warten.
Obwohl sie erst zehn Sommer hatte ins Land gehen sehen, war sie bereits das Ebenbild ihrer Mutter. Sie trug ihr dunkles Haar in einem Zopf, der ihr über den Rücken herabfiel. Julius lachte, als er zusah, wie das Mädchen mit einem Satz von seinem Pony sprang, geschäftig um es herumrannte und ihm mit den Fingern durch Mähne und Schweif fuhr, um Dornen und Kletten herauszukämmen.
Beim Klang der fremden Stimme zuckte seine Tochter zusammen und drehte sich um, um zu sehen, wer es wagte, sie in ihrem eigenen Hause auszulachen. Als sie Julius’ Augen sah, runzelte sie misstrauisch die Stirn. Julius betrachtete sie genau, als sie auf ihn zukam. Fragend hielt sie den Kopf zur Seite geneigt, so wie Cornelia es immer getan hatte.
Sie schritt selbstbewusst aus, stellte er zufrieden fest. Die Herrin eines Anwesens kam auf ihre Gäste zu. Zum Reiten trug sie eine abgetragene, helle Tunika und Beinlinge, und mit den zurückgebundenen Haaren und noch ohne sichtbaren Brustansatz hätte man sie für einen Jungen halten können. Er bemerkte einen einfachen silbernen Armreif an ihrem Handgelenk und erkannte ihn als ein Schmuckstück wieder, das einmal seiner Mutter gehört hatte.
Auch Clodia war herausgekommen, um Zeugin des Wiedersehens zu werden. Sie lächelte sie beide mit mütterlichem Stolz an.
»Das ist dein Vater, Julia«, sagte sie. Das Mädchen erstarrte augenblicklich, obwohl sie sich gerade Staub hatte vom Ärmel klopfen wollen. Dann sah sie Julius ernst und fragend an.
»Ich kann mich an dich erinnern«, sagte sie langsam. »Bleibst du jetzt hier?«
»Eine Zeit lang«, antwortete Julius genauso ernsthaft.
Das kleine Mädchen ließ die Nachricht auf sich wirken und nickte schließlich.
»Kaufst du mir dann ein Pferd? Ich werde zu groß für den alten Gibi, und Recidus sagt, ich würde mich gut auf einem Pferd mit ein bisschen mehr Feuer machen.«
Julius blinzelte sie an. Ein wenig von der Vergangenheit schien in seiner Belustigung zu verblassen.
»Ich werde eine wahre Schönheit für dich aussuchen«, versprach er und wurde dafür mit einem Lächeln belohnt, das ihn schmerzhaft an die Frau erinnerte, die er verloren hatte.
Alexandria wich vor der Hitze des Ofens zurück. Sie sah zu, wie Tabbic den Becher mit dem geschmolzenen Gold wegnahm und über die Eingusslöcher in den Tonformen hielt.
»Und jetzt ganz vorsichtig«, sagte sie unnötigerweise, als Tabbic ohne jegliches Zittern den Tiegel mit dem langen hölzernen Griff neigte. Als das Gold zischend und gluckernd in die Form floss, erwiesen sie beide dem flüssigen Metall den Respekt, denn es verdiente. Nur ein einziger Spritzer davon konnte sich bis auf den Knochen durch die Haut brennen, und jeder Arbeitsschritt musste sehr langsam und sorgfältig ausgeführt werden. Alexandria nickte zufrieden, als Dampf aus den Luftlöchern der Tonform aufstieg. Der tiefe, glucksende Ton wurde immer heller, bis die Form voll war. Wenn das Gold abgekühlt war, würde der Ton mühsam entfernt werden. Darunter würde eine Maske zum Vorschein kommen, die genauso vollkommen war wie das Gesicht der Frau, die sie darstellte. Auf die Bitte eines Senators hin hatte Alexandria die unangenehme Aufgabe erfüllt, seiner Frau nur wenige Stunden nach ihrem Tod einen Abdruck abzunehmen. Danach hatte sie drei unvollkommene Masken aus Ton angefertigt, während sie versucht hatte, die Spuren des Verfalls zu glätten. Dort, wo die Krankheit das Fleisch zerstört hatte, hatte sie mit größter Sorgfalt die Nase nachgebildet, und schließlich war der Mann in Tränen ausgebrochen, als er das genaue Ebenbild der Frau vor sich sah, die der Tod ihm genommen hatte. In Gold würde sie für immer jung bleiben, selbst wenn der Mann, der sie liebte, schon längst zu Staub zerfallen war.