»Wer schützt dein Land, wenn du weg bist?«, rief er.
Julius drehte sich um. Seine dunklen Augen bohrten sich in den Gallier.
»Du, Mhorbaine. Aber wir werden keinen Schutz brauchen.« Mhorbaine sah den römischen General in der blank polierten Rüstung scheel an.
»Es gibt viele Stämme, die deine Abwesenheit sehr gern ausnützen würden, mein Freund. Die Helvetier könnten zurückkehren, aber auch die Allobroger würden sofort alles stehlen, was sich mitnehmen lässt.«
Er sah zu, wie Julius seinen Helm mit der Gesichtsmaske aufsetzte. Die eiserne Maske ließ ihn wie eine zum Leben erwachte Statue aussehen. Sein Brustpanzer glänzte vor Öl, seine braunen Arme waren kräftig und von einem Muster weißer Linien überzogen.
»Sie wissen, dass wir zurückkommen, Mhorbaine«, sagte Julius und lächelte dabei unter der Maske.
Nach der ersten Meile, als der Schweiß anfing, ihm in den Augen zu brennen und ihm die Sicht trübte, hatte er den Eisenhelm wieder abgenommen. Trotz aller guter Absichten war Alexandria niemals hundert Meilen in voller Rüstung marschiert.
In jeder Stadt, die auf ihrem Weg lag, nahm Julius Getreide oder Fleisch als Tribut an. Es gab nie ausreichend Nahrungsmittel, und es verdross ihn, dass er hatte Wachen zurücklassen müssen, um den regelmäßigen Nachschub aus Mhorbaines Gebieten zu sichern. Mit den Nachtlagern der Legion als Zwischenstationen wurden die ersten Verbindungen nach Norden angelegt. Später würden dauerhaftere Straßen folgen, und die Händler Roms würden sich immer weiter in das Land vorwagen und alles herbeischaffen, was sich dort verkaufen ließ. Er wusste, dass die Straßen nach zwei, spätestens drei Jahren von befestigten Lagern und Wachstationen gesichert sein würden. Dann würden diejenigen kommen, die in Rom kein Land besaßen, um neue Höfe und Güter abzustecken und von vorne anzufangen, und manch einer von ihnen würde sein Glück machen.
Es war eine berauschende Vorstellung für Julius, obwohl seine Legionen auf diesem ersten Marsch gegen Ariovist nie weiter als zehn Mahlzeiten vom Verhungern entfernt waren, eine Spanne, die von ebenso grundsätzlicher Wichtigkeit war wie jeder andere Faktor ihrer Schlagkraft. Julius hatte das Gefühl, seine Streitmacht würde zur Ader gelassen, wenn er gemischten Gruppen aus Kavallerie und Velites den Befehl gab, das Gelände hinter ihnen für die Versorgungslinie zu sichern. Er dehnte die Versorgungslinie so sehr aus, wie er es gerade noch zu verantworten wagte, doch Gallien war viel zu groß, um eine feste Verbindung bis zu den Haeduern aufrechtzuerhalten, und er nahm sich vor, sofort nach anderen Verbündeten Ausschau zu halten, sobald er mit Ariovist fertig war.
Manchmal schien es fast so, als stellte sich ihnen das Land selbst in den Weg. Der Boden war mit dicken Grasbüscheln bedeckt, die unter den Sohlen wegrutschten und umkippten, was das Vorankommen der Legionen noch mehr verlangsamte. An einem guten Tag entfernten sie sich nicht mehr als zwanzig Meilen vom vorigen Lager.
Als seine Kundschafter Reiter meldeten, welche die Legionen beobachteten, warf Julius seine Listen und Rechnungsbücher erleichtert beiseite. Bei den ersten Sichtungen hatten sie kaum mehr als ein paar Bewaffnete erblickt, doch die Legionen spannten sich bei diesen Nachrichten kaum merklich an. Die Soldaten ölten ihre Klingen jeden Abend mit besonderer Sorgfalt, auf den Straflisten tauchten weniger Namen auf. Julius ließ die schnellsten der Extraordinarii ausschwärmen, doch sie verloren die Spur ihrer Beute in den Wäldern und Tälern, wobei einer der besten Wallache sich in vollem Galopp ein Bein brach und seinen Reiter tötete.
Julius zweifelte nicht daran, dass die Spione von Ariovist kamen, aber es überraschte ihn trotzdem, als ein einzelner Reiter auftauchte, als die Legionen gerade Rast machten und ihr Mittagsmahl einnahmen. Der Mann lenkte sein Pferd aus einer Waldspitze hinaus und einen steilen Granithang herab und löste damit ein Gewirr aus Warnsignalen und Hörnerklängen aus. Sofort ließen die Extraordinarii ihr Essen unangetastet stehen, rannten zu ihren Pferden und sprangen in die Sättel.
»Wartet!«, rief ihnen Julius mit erhobener Hand zu. »Lasst ihn herankommen.«
Die Legionen stellten sich in schrecklichem Schweigen zu Reihen auf, alle Augen richteten sich auf den Reiter, der sich ihnen ohne ein Anzeichen der Furcht näherte. Julius zog sein Fernrohr heraus, fixierte die Linsen und betrachtete den Mann. Was er sah, ließ ihn die Stirn kraus ziehen, aber gegenüber denjenigen, die um ihn herumstanden, verlor er kein Wort.
Als der Fremde die ersten Reihen der Zehnten erreicht hatte, stieg er ab. Er sah sich rasch um und nickte kurz, als er Julius in seiner Rüstung im Kreise der Flaggen und der Extraordinarii stehen sah. Als sich ihre Blicke trafen, musste Julius sich zusammenreißen, um sich das Unbehagen, das er empfand, nicht anmerken zu lassen. Er hörte seine Legionäre nervös murmeln, und einer oder zwei von ihnen machten angesichts der überirdischen Erscheinung des Reiters mit den Händen Zeichen gegen das Böse.
Der Mann trug eine Lederrüstung über grobem Tuch, die Unterschenkel waren nackt. Runde Eisenplatten schützten seine Schultern und ließen ihn noch massiger wirken, als er ohnehin schon war. Er war groß, auch wenn Ciro ihn um etliche Zoll überragte und er im Vergleich zu Artorath klein gewirkt hätte. Es waren sein Gesicht und sein Schädel, bei deren Anblick sich die Römer, an denen er vorüberging, verunsicherte Blicke zuwarfen.
Er ähnelte keinem Menschenschlag, dem Julius jemals begegnet war, mit einer derartigen Knochenwulst über den Augen, dass sie aus einem immerwährenden Schatten herauszustarren schienen. Sein Schädel war glatt rasiert, bis auf einen langen Pferdeschwanz am Hinterkopf, der beim Gehen hinter ihm schaukelte und von dunklen, eingeflochtenen Metallverzierungen nach unten gezogen wurde. Der Schädel selbst war heftig deformiert und wies über der ersten Wulst noch eine zweite auf.
»Kannst du mich verstehen?«, fragte Julius. »Wie heißt du, und welchem Stamm gehörst du an?«
Der Krieger musterte ihn, ohne zu antworten, und Julius schüttelte sich innerlich, denn mit einem Mal wurde ihm klar, dass der Mann sich der Wirkung, die er hervorrief, durchaus bewusst war. Wahrscheinlich hatte Ariovist ihn genau aus diesem Grunde ausgewählt.
»Ich bin Redulf von den Sueben. Ich habe eure Worte gelernt, als mein König für euch kämpfte und dafür ›Freund auf Lebenszeit‹ genannt wurde«, sagte der Mann.
Es war unheimlich, die lateinische Sprache von einem so dämonisch aussehenden Wesen zu vernehmen, aber Julius nickte, erleichtert, dass er nicht auf die von Mhorbaine zur Verfügung gestellten Dolmetscher zurückgreifen musste.
»Dann hat dich Ariovist geschickt?«, fragte Julius.
»Das habe ich gesagt«, antwortete der Mann.
Julius verspürte einen gereizten Stich. Der Mann war genauso arrogant wie sein Herr.
»Dann sage, was man dir aufgetragen hat, Bursche«, gab Julius zurück. »Ich will wegen dir keine Zeit verlieren.«
Der Mann versteifte sich angesichts des Spotts, und Julius bemerkte, wie sich langsam eine Röte auf den knochigen Wülsten seiner Brauen ausbreitete. Waren diese Deformierungen ein Geburtsfehler oder das Resultat irgendeines eigentümlichen Rituals der Stämme auf der anderen Seite des Rheins? Julius winkte einen Boten heran und murmelte ihm zu, Cabera von der Spitze der Marschsäule herbeizuholen. Als der Bote davonflitzte, erhob der fremde Krieger seine Stimme und sprach so laut, dass man ihn ringsum gut hören konnte.
»König Ariovist empfängt dich bei dem Stein im Norden, der unter dem Namen ›die Hand‹ bekannt ist. Ich soll dir sagen, dass er nicht erlaubt, dass dich deine Fußsoldaten begleiten. Er kommt nur mit seinen Reitern und erlaubt dir das Gleiche. Das sind seine Bedingungen.«