Er war nicht gesprächig, doch sehr geduldig und verständnisvoll. Arrens gelegentliche Ungeschicklichkeiten machten ihn nicht nervös, er war nachsichtig und rücksichtsvoll, man konnte sich kaum einen besseren Reisegefährten wünschen, dachte Arren. Doch manchmal war er so in Gedanken versunken, daß er stundenlang schwieg, und wenn er dann endlich wieder redete, war seine Stimme rauh, und er schien durch Arren zu blicken. Dies tat der Liebe, die Arren für ihn hegte, keinen Abbruch, doch vielleicht verringerte es das Gefallen, das er an ihm fand, denn es füllte ihn mit ehrfürchtigem Staunen. Sperber spürte dies vielleicht, denn in dieser nebligen Nacht vor der Küste der Insel Wathort begann er, ziemlich stockend, von sich selbst zu erzählen. » Ich will nicht unter Menschen gehen«, sagte er. »Ich versuche mir einzureden, daß ich frei bin… daß alles in Ordnung ist auf der Welt, daß ich kein Erzmagier, nicht einmal ein Zauberer bin, sondern Falk von Temere, ohne Verpflichtungen, ohne Privilegien, daß ich niemandem etwas schulde …« Er hielt inne und fuhr dann fort: »Sei vorsichtig, Arren, wenn die großen Entscheidungen an dich herantreten und du wählen mußt. Als ich jung war, mußte ich mich entscheiden zwischen einem beschaulichen Leben und einem tätigen Leben. Und ich schnappte nach dem letzteren wie eine Forelle nach einer Fliege. Doch jede Handlung, jede Tat bindet dich an sich selbst und an ihre Folgen und zwingt dich immer wieder zu weiterem Handeln. Selten geschieht es, daß du eine Zeitspanne zur Verfügung hast, so wie jetzt, zwischen dem Tun, wo du innehalten und ganz einfach nur da sein kannst, wenn du dir überlegen kannst, wer du nun eigentlich bist.«
Wie konnte solch ein Mann, dachte Arren, sich fragen, wer oder was er sei? Er hatte geglaubt, daß Zweifel dieser Art nur jungen Menschen vorbehalten waren, die noch nichts geleistet hatten.
Das Boot schaukelte hin und her in der großen kalten Dunkelheit.
»Daher liebe ich das Meer«, drang Sperbers Stimme aus der Dunkelheit an sein Ohr.
Arren verstand ihn, doch seine Gedanken liefen ihm voraus, wie sie es die vergangenen drei Tage und Nächte getan hatten, auf die Fahrt, auf das Ziel ihrer Reise zu. Und da sein Gefährte endlich in einer redefreudigen Stimmung schien, packte er die Gelegenheit beim Schopfe: »Glauben Sie, daß wir in Hort das finden, was wir suchen?«
Sperber schüttelte den Kopf, entweder verneinend oder sein Nichtwissen ausdrückend.
»Kann es sich um eine Plage, eine Heimsuchung, eine Pestilenz handeln, die von Land zu Land getrieben wird und die Ernte, die Herden und die Gemüter der Menschen zerstört?«
»Eine Plage ist nur eine Störung des Gleichgewichts der Dinge. Dies jedoch ist etwas anderes. Daran haftet der Geruch des Bösen. Unter einer Plage würden wir leiden, doch wir würden nicht die Hoffnung verlieren und die Künste aufgeben und die Worte des Schöpfens vergessen. Die Natur geht nicht wider sich selbst. Jetzt aber handelt es sich nicht um eine Wiederherstellung des Gleichgewichts, eher um eine permanente Störung. Nur eine Kreatur kann dies verursachen.«
»Ein Mensch?« fragte Arren zögernd.
»Wir Menschen.«
»Wie?«
»Durch einen grenzenlosen Durst nach dem Leben.«
»Nach dem Leben? Aber es ist doch nicht falsch, leben zu wollen?«
»Nein. Aber wenn wir einen Willen zur Macht in uns verspüren, der über das Leben triumphieren möchte — wenn wir grenzenlosen Reichtum, uneingeschränkte Sicherheit, Unsterblichkeit erstreben — dann wird der Wunsch zur Gier. Und wenn sich Wissen zu dieser Gier gesellt, dann kommt das Unheil, das Böse. Dann wird das Gleichgewicht der Welt gestört, und der Ruin drückt die Waage nach unten.«
Arren grübelte eine Weile über diese Worte nach, dann fragte er: »Sie glauben also, daß wir einen Menschen suchen?«
»Einen Menschen und einen Magier. Ja, das glaube ich.«
»Aber ich hatte geglaubt, nach dem, was mich mein Vater und meine Lehrer gelehrt hatten, daß die hohen Künste der Magie auf dem Gleichgewicht aller Dinge beruhen, und daher nicht zu bösen Zwecken verwendet werden können.«
»Das«, sagte Sperber leise seufzend, »das ist ein umstrittener Punkt. Immer wird es Kontroversen zwischen Magiern geben … Jedes Land der Erdsee kennt Zauberweiber, die Schwarze Zauberkünste praktizieren, und Zauberer, die ihre Kunst dazu benutzen, um sich selbst zu bereichern. Aber es gibt noch Schlimmeres. Der Feuerfürst, der die Dunkelheit abschaffen und die Sonne am Mittag festhalten wollte, war ein großer Magier, und selbst Erreth-Abke konnte ihn nur mit äußerster Anstrengung bezwingen. Morreds Feind war ähnlich. Er war so mächtig, daß sich die Städte vor ihm beugten, wo immer er hinkam, und Armeen fochten für ihn. Der Zauber, den er gegen Morred gewoben hatte, war so stark, daß er des Zauberers Tod überdauerte; die Insel Solea wurde vom Meer überspült und alle, die dort wohnten, gingen unter. Das alles waren Männer gewesen, die große Macht und großes Wissen besaßen, die aber dem Willen des Bösen dienten und an ihm stark wurden. Ob die Zauberkraft, die dem Guten dient, letzten Endes die stärkere ist, das wissen wir nicht. Wir hoffen es nur.«
Es ist bitter, wenn man dort, wo man Sicherheit erwartet hat, nur Hoffnung findet. Arren war nicht gewillt, die bittere Pille zu schlucken. Nach einer Weile meinte er: »Ich glaube, jetzt verstehe ich, was Sie meinten, als Sie sagten, daß nur Menschen Böses tun können. Selbst Haifische sind unschuldig. Sie töten, weil sie müssen.«
»Deswegen kann uns Menschen keine Schranke gesetzt werden. Eine einzige Macht nur kann einem bösen Menschen widerstehen: ein anderer Mensch. In unserer Tiefe liegt auch unsere Größe. Nur in unserem menschlichen Willen, der des Bösen mächtig ist, liegt gleichzeitig auch die Macht, Böses zu überwinden.«
»Aber die Drachen«, sagte Arren, »tun die nichts Böses? Sind die unschuldig?«
»Die Drachen? Die Drachen sind goldgierig, unersättlich, hinterlistig, erbarmungslos und kennen keine Reue. Doch sind sie böse? Ich, ein Mensch, wie kann ich mich unterstehen, Drachen zu beurteilen? — Sie sind weiser als wir. Sie sind wie Träume, Arren. Wir Menschen, wir träumen, wir wirken Magie. Wir tun Gutes und wir tun Böses. Doch Drachen träumen nicht. Sie sind selbst Träume. Sie wirken keine Magie: Magie ist ihr Wesen, ihr Sinn. Sie handeln nicht, sie sind.«
»In Serilune«, sagte Arren, »befindet sich die Haut von Bar Oth, der vor dreihundert Jahren von Keor, einem Prinzen von Enlad, getötet wurde. Von diesem Tag an sind keine Drachen mehr nach Enlad gekommen. Ich habe die Haut von Bar Oth gesehen. Sie ist so schwer wie Eisen, und man sagt, sie sei so groß, daß sie, ausgebreitet, den ganzen Marktplatz von Serilune bedecken würde. Die Zähne sind so lang wie mein Unterarm. Und Bar Oth, so sagt man, war noch nicht voll ausgewachsen, er war noch ein junger Drache.«
»Du hegst den Wunsch«, sagte Sperber, »selbst Drachen zu sehen.«
»Ja.«
»Ihr Blut ist kalt und giftig. Man darf nie in ihre Augen blicken. Sie sind viel älter als die Menschen.« — Er verstummte und fuhr dann fort: »Und doch, wenn ich alles, was ich in meinem Leben getan habe, vergessen oder bedauern müßte, wenn mir dies eine Bild bliebe — Drachen, die, vom Winde getragen, sich über die Inseln im Westen erheben — dann wäre ich zufrieden.«
Beide schwiegen; alles war still, nur das Wasser flüsterte gegen das Boot; kein Licht blinkte. Und endlich schliefen sie ein, an der Küste Wathorts, über dem tiefen Wasser des Meeres.
Der Hafen von Hort lag im hellen Dunst des Morgens. Hundert oder noch mehr Schiffe waren teils noch verankert, teils schon unterwegs: Fischkähne, Schleppkähne, einfache Ruderboote, Lastschiffe, zwei Galeeren mit je zwanzig Rudern, eine große Galeere mit sechzig Rudern in schlechtem Zustand, und einige lange, schlanke Segelschiffe mit hohen dreieckigen Segeln, die dazu bestimmt waren, die Höhenwinde in den warmen Gewässern des Südbereiches aufzufangen.