Als Arren an der Tür Posten bezog, hatte Sperber ihn ganz kurz angeblickt, und Zustimmung hatte in diesem Blick gelegen, Zustimmung und Vertrauen. Er war der Wachtposten. So lange er aufpaßte, bestand keine Gefahr. Aber es war schwer, sehr schwer, diese beiden Gesichter zu betrachten und die Flamme, die wie eine kleine Perle zwischen ihnen brannte, diese beiden schweigenden Männer, die unbeweglich mit offenen Augen dasaßen die weder Licht noch den Schmutz des Zimmers, noch die Welt um sich herum wahrnahmen, die in einer anderen Welt, der Welt des Traumes oder des Todes sich befanden … Es war schwer, sie zu betrachten und nicht zu versuchen, ihnen zu folgen…
Hier, in der weiten trockenen Finsternis, stand einer und winkte ihn zu sich. Komm! sagte er, der große Gebieter des Schattenreiches. In seiner Hand hielt er eine Flamme — nicht viel größer als eine Perle — er bot sie Arren an, versprach ihm Leben. Und Arren machte benommen einen zögernden Schritt auf ihn zu und folgte ihm.
DAS MAGISCHE LICHT
Trocken, ganz trocken war sein Mund. Er konnte Staub schmecken. Seine Lippen waren mit Staub bedeckt.
Er beobachtete das Schattenspiel, ohne den Kopf vom Boden zu heben. Die großen Schatten streckten und beugten sich, die kleineren, undeutlicheren eilten hurtig, wie neckend, über Decke und Wände. In der Ecke befand sich ein Schatten, und auf dem Boden lag ein Schatten. Beide waren regungslos.
Sein Hinterkopf begann zu schmerzen. Ganz plötzlich klärte sich das Bild vor seinen Augen; es durchlief ihn eiskalt. Hase saß zusammengekrümmt in einer Ecke, sein Kopf lag auf seinen Knien. Sperber lag auf dem Rücken, ein Mann kniete auf ihm, ein anderer warf Goldstücke in einen Beutel, und ein Dritter sah zu. Der dritte Mann hielt in der einen Hand eine Laterne und in der anderen einen Dolch, Arrens Dolch.
Er konnte sich nicht Klarheit darüber verschaffen, ob sie redeten. Er hörte nur seine eigenen Gedanken, die ihm sofort und ohne Umschweife diktierten, was er zu tun habe. Er gehorchte im gleichen Augenblick. Langsam, ganz langsam, kroch er einen halben Meter nach vorne, dann streckte er flink seine Hand aus und ergriff den Beutel mit dem Gold. Er sprang auf und rannte, einen heiseren Ruf ausstoßend, hinaus auf den Gang und die Stufen hinunter. Sicheren Fußes, ohne eine Stufe auszulassen, flog er die stockfinstere Treppe hinunter. Er stürmte auf die Straße hinaus und warf sich blindlings und in vollem Lauf in die Dunkelheit.
Die Häuser hoben sich wie große schwarze Klumpen vom sternklaren Himmel ab. Das Licht der Sterne spiegelte sich schwach im Fluß, der rechts neben ihm dahinströmte. Obgleich er nicht sah, wohin die Straßen führten, erkannte er doch die Straßenübergänge, und manchmal schlug er eine entgegengesetzte Richtung ein, um seine Verfolger irrezuleiten. Sie waren ihm hart auf den Fersen, er hörte sie ganz in der Nähe. Sie waren barfuß, und ihr keuchender Atem war lauter als das Geräusch ihrer Füße. Er hätte aufgelacht, wenn er Zeit dazu gehabt hätte; endlich wußte er, was es hieß, der Gejagte und nicht der Jäger, die Beute und nicht der Führer der Meute zu sein. Allein war er, frei war er! Er bog rechts ab, rannte geduckt über eine Brücke mit hoher Brüstung, schlüpfte in eine dunkle Gasse, um eine Ecke herum, zurück zur Straße am Fluß, ihr entlang, dann über eine andere Brücke. Seine Schuhe schlugen hart auf das Kopfsteinpflaster; es war das einzige Geräusch in der stillen Stadt. Er hielt an einem Brückenpfeiler an, um seine Schnürsenkel aufzumachen, doch sie waren fest verknotet, und seine Verfolger hatten ihn nicht verloren. Die Laterne glitzerte kurz im Wasser des Flusses, das leise, schwere Getrappel der Füße war nahe. Er konnte sie nicht in der Dunkelheit verlieren, er konnte ihnen nur davonlaufen; lauf weiter, lauf geradeaus, führ sie weg von dem staubigen Zimmer, weit weg…
Sie hatten ihm seinen Mantel und sein Messer weggenommen. Er trug nur ein Hemd, es war dünn, und doch war ihm heiß. In seinem Kopf drehte sich alles, der Schmerz im Hinterkopf nahm zu. Er stach bei jedem Schritt mehr, doch er rannte, rannte immerfort… Der Beutel hinderte ihn am Laufen. Er schleuderte ihn von sich, und ein Goldstück flog heraus und klirrte auf die Steine. »Hier habt ihr euer Gold!« schrie er, seine Stimme war heiser, und er rang nach Atem. Er rannte weiter. Und plötzlich hörte die Straße auf. Keine Querstraße, keine Sterne waren mehr zu sehen; er war in eine Sackgasse geraten. Ohne seinen Lauf zu unterbrechen, wandte er sich um und lief seinen Verfolgern entgegen. Die Laterne schwang hin und her. Sie blendete ihn, doch er warf sich, mit einem trotzigen, herausfordernden Ruf auf den Lippen, gegen seine Feinde.
Eine Laterne pendelte hin und her. Ein schwaches Licht in einer großen grauen Leere. Lange hielt er seine Augen darauf gerichtet. Es wurde immer schwächer, und schließlich schob sich ein Schatten davor, und das Licht verschwand. Er trauerte ihm nach, vielleicht trauerte er um sich selbst, denn er wußte, daß er jetzt aufwachen mußte.
Die erloschene Laterne pendelte weiter an dem Mast, an dem sie festgemacht war. Das erste Licht des Tages lag auf dem Meer, das sie auf allen Seiten umgab. Eine Trommel schlug den Takt. Ruder knarrten, langsam, gleichmäßig; das Holz des Schiffes schrie und knirschte mit Hunderten kleiner Stimmen; ein Mann, im Bug stehend, rief den Männern hinter sich etwas zu. Die Männer, die mit Arren im hinteren Laderaum gefesselt beisammen saßen, schwiegen. Jeder von ihnen trug einen Eisengürtel und Handschellen, von beiden führten Eisenketten zum Nachbarn links und rechts; der Eisengürtel war außerdem noch durch eine Kette mit einem Eisenring an Deck verbunden, so daß die Männer sitzen oder kauern, aber nicht stehen oder liegen konnten. Sie waren sowieso so dicht zusammengepfercht, daß Liegen ausgeschlossen war. Arren befand sich an der vorderen Ecke an der Backbordseite. Wenn er den Kopf hochreckte, waren seine Augen auf einer Höhe mit dem Deck, das zwischen Laderaum und Reling, nicht mehr als einen halben Meter breit war.
Von den Geschehnissen der vergangenen Nacht war ihm nur noch die Jagd durch die Straßen und die Sackgasse gegenwärtig. Er hatte sich gewehrt und war überwältigt, dann gefesselt und fortgetragen worden. Ein Mann mit einer merkwürdig flüsternden Stimme hatte gesprochen, dunkel erinnerte er sich an eine Art Schmiede, an ein loderndes Feuer in einer Esse … Es war alles verschwommen. Doch er wußte, daß er sich auf einem Sklavenschiff befand, daß er gefangen war und verkauft werden würde.
Es war ihm ziemlich gleichgültig. Er war viel zu durstig. Sein Körper war wund, und sein Kopf schmerzte. Die Strahlen der aufgehenden Sonne bohrten sich wie schmerzende Pfeile in seine Augen.
Später am Morgen bekam jeder von ihnen das Viertel eines Brotlaibes und durfte einen langen Schluck aus einer Lederflasche nehmen, die von einem Mann mit harten, scharfen Zügen an ihre Lippen gehalten wurde. Um seinen Hals trug er ein breites, mit Goldnägeln verziertes Lederhalsband, wie ein Hundehalsband sah es aus, und als Arren ihn sprechen hörte, erkannte er die seltsam schwache, flüsternde Stimme.
Der Trunk und die Nahrung verminderten sein körperliches Unbehagen für eine Weile; er konnte wieder klar denken. Zum ersten Mal schaute er die Gesichter seiner Leidensgenossen an, der drei, die neben, und der vier, die hinter ihm saßen. Einige hatten die Knie hochgezogen und ließen den Kopf darauf ruhen; einer war vornüber gefallen und hing leblos an seinen Ketten, vielleicht war er seekrank, vielleicht hatte man ihm Drogen gegeben. Neben Arren saß ein ungefähr zwanzigjähriger Bursche mit einem breiten, flachen Gesicht. »Wo bringen sie uns hin?« fragte Arren.