Arren verstand nicht alles, was Sperber sagte, und er hatte auch nicht den Wunsch, alles zu verstehen, noch nicht jedenfalls. Er war nur ein kleines Stück in diese ›Dunkelheit‹ gelockt worden, von der die Zauberer sprachen, und er wünschte, daß er sie vergessen könnte. Er wollte nichts mehr damit zu tun haben. Deswegen wollte er auch nicht schlafen, denn er hatte Angst, daß er sie in seinen Träumen wiedersehen und dieser dunklen Gestalt begegnen würde, diesem Schatten, der ihm eine Perle entgegengehalten und geflüstert hatte: »Komm!«
»Warum …?« seine Gedanken waren schon wieder bei einem anderen Thema, »warum…?«
»Schlaf jetzt!« sagte Sperber, leicht verzweifelt.
»Ich kann nicht, wirklich. Warum haben Sie die anderen Sklaven nicht befreit?«
»Ich habe sie befreit. Keiner war mehr gefesselt an Bord des Schiffes.«
»Aber die Leute, die Egre dienten, die waren bewaffnet. Wenn Sie die gefesselt hätten…«
»Wenn ich die gefesselt hätte? Es waren ja nur sechs. Die Ruderer waren gefesselt, wie du. Egre und seine Leute sind vielleicht schon tot oder von den anderen gefesselt worden, um als Sklaven verkauft zu werden. Ich befreite sie, und es steht ihnen frei, zu tun, was sie wollen, zu kämpfen oder zu handeln. Ich bin kein Sklavenjäger.«
»Aber Sie wußten, daß es böse Menschen waren.«
»Bedeutet das, daß ich auch so handeln muß wie sie? Sollte ihre Schändlichkeit mein Tun beeinflussen? Muß ich mich nach ihnen richten? Ich treffe keine Entscheidungen für sie, und ich werde auch nicht zulassen, daß sie meine Entscheidungen bestimmen.«
Arren schwieg und dachte über diese Worte nach. Nach einer Weile fuhr der Magier mit leiser Stimme fort: »Siehst du jetzt ein, Arren, daß eine Handlung, wie junge Menschen es glauben, nicht wie ein Felsbrokken ist, den man aufhebt und fortwirft, und der entweder das Ziel trifft oder es verfehlt. Nein, wenn dieser Brocken aufgehoben wird, dann wird die Erde leichter, und die Hand, die ihn hält, wird schwerer. Wenn er geworfen wird, dann bleibt selbst die Bahn der Sterne davon nicht unberührt und wo er hinfällt, ändert sich die Umwelt. Jede Handlung beeinflußt das Gleichgewicht der Dinge. Die Winde und die Meere, das Wasser, die Erde und das Licht, all die Mächte und alles, was Tiere und Pflanzen tun, ist richtig und gut. Sie alle handeln, ohne das Gleichgewicht zu stören. Ein Orkan, das Blasen eines Riesenwals, der Fall eines dürren Blattes, der Flug einer Mücke, all dies ist Teil eines Ganzen und all dies trägt zum Gleichgewicht bei. Wir aber, wir haben begrenzte Macht über die Natur und über uns selbst, und wir müssen lernen, was Blatt, Fisch und Wind instinktiv richtig tun. Wir müssen lernen, das Gleichgewicht aufrechtzuerhalten. Da uns Verstand gegeben wurde, dürfen wir nicht handeln, als ob wir keinen hätten. Da uns eine Wahl gegeben ist, dürfen wir nicht unverantwortlich handeln. Wer bin ich, daß ich — obwohl ich die Macht dazu hätte — bestrafen und belohnen kann und mit dem Geschick der Menschen spielen, wie es mir gutdünkt?«
»Aber«, sagte der Junge und sah nachdenklich hinauf zu den Sternen, »bleibt denn das Gleichgewicht erhalten, wenn man nichts tut? Bedeutet das, daß ein Mensch nur dann handeln soll, wenn er alle Folgen kennt, die seine Handlung nach sich ziehen kann? Würde denn dann überhaupt noch gehandelt werden?«
»Hab keine Angst. Es fällt dem Menschen viel leichter zu handeln, als vom Handeln abzusehen. So lange wir leben, so lange werden wir Gutes oder Böses tun … Aber wenn wir wieder einen König hätten, der über uns alle herrschte, und wenn er, wie es früher üblich war, bei einem Magier Rat suchen würde, und wenn ich dieser Magier wäre, dann würde ich zu ihm sagen: Mein Fürst, handeln Sie nicht, nur weil es Ihnen edel, oder lobenswert, oder rechtmäßig vorkommt, handeln Sie nicht, nur weil es Ihnen. Handeln Sie nur dann, wenn Sie es nicht vermeiden können, wenn Sie nicht umhin können, zu handeln.«
In seiner Stimme lag wieder der Ton, der Arren aufhorchen ließ, und er blickte ihn an. Er glaubte wieder das Licht wahrzunehmen, das von seinem Gesicht ausging, das die gekrümmte Nase, die vernarbte Wange, die dunklen, tiefen Augen erhellte. Und er blickte ihn an, voll Liebe, aber auch voll Furcht, und er dachte: »Er ist mir so weit überlegen.« Doch als er ihn weiterhin anblickte, merkte er, daß es kein magisches Licht war, keine kalte, zauberische Helle, sondern daß es das Licht selbst war, das gewöhnliche Licht des Tages. Es gab eine Macht, die größer war als die Macht des Magiers. Und die Jahre waren nicht spurlos an ihm vorübergegangen, Arren sah Linien in seinem Gesicht, die das Alter gefurcht hatte, und er sah müde aus im immer heller werdenden Licht des Morgens. Er gähnte …
Gedankenverloren ließ er den Blick auf ihm ruhen und schlief endlich ein. Doch Sperber blieb an seiner Seite sitzen und wartete auf die Morgendämmerung und den Sonnenaufgang. Er saß und glich einem Menschen, der einen Schatz prüft, an dem nicht mehr alles vollkommen ist, ein Juwel mit einem Makel, ein krankes Kind.
TRÄUME AUF DEM MEER
Später am Morgen nahm Sperber den magischen Wind aus dem Segel und überließ sein Boot dem Wind der Welt, der sanft aus dem Süden und Westen blies. Rechts vom Boot, in weiter Ferne, sah man noch die blauen Hügel von Südwathort, die immer kleiner wurden und schließlich nicht viel höher als der Gischt über den Wellen des Meeres waren und bald verschwanden.
Arren erwachte. Das Meer schimmerte golden in der Hitze des Mittags, endloses Wasser unter einem endlosen Himmel. Sperber saß im Heck des Schiffes. Er hatte nur ein Tuch um seine Lenden geschlungen und eine Art Turban aus Segeltuch um seinen Kopf, sonst war er nackt. Er sang leise vor sich hin und schlug mit der Hand einen leisen, gleichförmigen Rhythmus auf die Ruderbank, als ob sie eine Trommel wäre. Was er sang, war weder Zaubergesang noch Heldenlied, sondern eine einfache Melodie mit Worten ohne Bedeutung, wie sie wohl ein Hirtenjunge vor sich hinsingen mag, der während der langen, heißen Sommernachmittage in den Bergen von Gont auf seine Ziegen aufpassen muß.
Die Oberfläche des Wassers teilte sich. Ein Fisch sprang hoch und schnellte sich mit ausgebreiteten Flügeln, die im Sonnenlicht wie Libellenflügel schillerten, einige Meter weit durch die Luft.
»Jetzt sind wir im Südbereich«, sagte Sperber, als er mit seinem Lied fertig war. »Es ist ein merkwürdiger Bereich. Hier gibt es fliegende Fische, und man behauptet, daß es auch singende Delphine gäbe. Aber das Wasser ist warm und einladend, und ich habe ein Abkommen mit den Haifischen geschlossen. Wasch den Rest von dem Dreck des Sklaventransportes von dir ab!«
Jeder Muskel schmerzte ihm, und Arren bewegte sich zunächst nur mit Widerwillen. Auch war er ein ungeübter Schwimmer, denn die See um Enlad herum ist nicht einladend und im Kampf mit ihr ermüdet man rasch.
So kommt das Schwimmen gewöhnlich zu kurz. Das Meer hier war tiefblau. Es war kalt, als er hineinsprang, doch die Kälte verging rasch, und es war herrlich, sich im Wasser zu bewegen. Er tummelte sich an der Seite der Weitblick wie eine junge Seeschlange. Das Wasser sprühte hoch auf wie eine Fontäne. Sperber gesellte sich zu ihm, seine Züge waren kräftiger. Die Weitblick, die weißen Flügel über das glänzende Wasser gebreitet, wartete auf sie, geduldig und schützend. Ein Fisch schnellte sich in die Luft, Arren folgte ihm; der Fisch tauchte unter, schnellte sich wieder empor, schwamm in der Luft, flog durch die See und folgte Arren.