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Der Junge, biegsam und golden im hellen Sonnenschein, vergnügte sich im Wasser, bis die Sonne das Meer berührte. Der Mann, dunkel und sehnig, schwamm mit den ruhigen, gelassenen Zügen, mit der ausgewogenen Kraft des Alters. Er hielt das Boot auf Kurs, spannte ein provisorisches Sonnensegel aus Leinwand auf und blickte liebevoll sowohl auf den schwimmenden Jungen als auch auf den fliegenden Fisch.

»Wo fahren wir jetzt hin?« fragte Arren später, als die Dämmerung schon hereingebrochen war und er sich an Salzfleisch und Brot gütlich getan hatte; er war schon wieder müde.

»Lorbanery«, antwortete Sperber, und die klangvollen Silben dieses Wortes waren das letzte, was Arren an diesem Abend vernahm. Sie woben sich durch seine Träume. Er träumte, daß er durch Berge von weichem Zeug watete, rosa, goldenen und himmelblauen Fetzen und Fäden, und daß es ihm großen Spaß machte; irgend jemand sagte zu ihm: »Das sind die Seidenfelder von Lorbanery, und hier wird es nie dunkel.« Doch später in der Nacht, als er die Sterne des Herbstes am Himmel des Frühlings scheinen sah, träumte er, daß er sich in einer Ruine befand. Alles war trocken hier und alles war mit Staub bedeckt und mit Spinnweben verhangen. Arrens Beine waren in den Spinnweben verstrickt, sein Mund und seine Nasenlöcher waren davon bedeckt, und er konnte nicht mehr atmen. Doch das schlimmste war, daß er den hohen, zerstörten Raum wiedererkannte: es war der Saal im Großhaus von Rok, in dem er mit den Meistern das Frühstück eingenommen hatte.

Erschrocken wachte er auf, sein Herz pochte heftig, seine Beine, die gegen die Ruderbank gepreßt waren, schmerzten. Er setzte sich auf und versuchte den schrecklichen Traum zu vergessen. Im Osten war es noch nicht hell geworden, doch die Dunkelheit schien dort nicht mehr so dicht zu sein. Der Mast knarrte, das Segel, prall gefüllt von einer frischen Brise aus Nordosten, schimmerte schwach und hoch über ihm. Sein Gefährte lag im Heck und schlummerte ruhig und friedlich. Arren legte sich wieder nieder und fiel in einen leichten Schlaf, bis der helle Tag ihn weckte.

Die See schien noch blauer und ruhiger als am Vortag zu sein. Nie hätte er sich das Meer so vorgestellt! Das Wasser war so angenehm und klar, daß ihm das Schwimmen wie ein Gleiten oder Schweben in Luft vorkam, es hatte etwas Träumerisches an sich.

Während der Mittagszeit fragte er: »Geben Zauberer viel auf Träume?«

Sperber angelte. Seine ganze Aufmerksamkeit war auf die Angelschnur gerichtet. Nach einer Weile erwiderte er »Warum?«

»Ich wüßte gerne, ob sie je wahr sind.«

»Aber sicher.«

»Sagen sie die Zukunft voraus?«

Aber der Magier hatte gespürt, wie ein Fisch angebissen hatte, und zehn Minuten später, als er ihr Mittagessen, einen prächtigen, silberblauen Barsch, neben sich gelandet hatte, war die Frage vergessen.

Am Nachmittag, als sie sich unter dem Sonnensegel, das sie vor der brennenden Sonne schützte, ausgestreckt hatten, fragte Arren: »Was suchen wir in Lorbanery?«

»Das, was wir suchen.«

Nach einer Weile sagte Arren: »In Enlad erzählt man die Geschichte von dem Jungen, dessen Schulmeister ein Stein war.«

»O ja? … Was hat der von ihm gelernt?«

»Keine Fragen zu stellen.«

Sperber schnaubte, und es klang, als müßte er ein Lachen unterdrücken, dann setzte er sich auf. »Na gut«, sagte er. »Im allgemeinen rede ich ja erst, wenn ich weiß, worüber ich rede. Also warum wird in der Stadt Hort und in Narveduen und vielleicht überall in den Bereichen keine Magie mehr gewirkt? Zogen wir nicht aus, um die Antwort darauf zu finden?«

»Doch.«

»Hast du schon die Redensart gehört: Die Bereiche haben ihre eigenen Gesetze? Leute, die zur See fahren, sagen das oft, aber eigentlich wurde die Redensart von einem fahrenden Magier geprägt, und sie bedeutet nichts anderes, als daß Magie vom Ort abhängt. Eine Formel, die in Rok wirkt, ist vielleicht völlig wirkungslos auf Iffisch. Die Ursprache, die Sprache des Schöpfens, hat sich nicht überall gleich gut erhalten, hier ein Wort und da ein Wort. Und wenn ein Zauber gewirkt wird, so spielen Wind, Wasser und Erde und das Licht, das auf den Ort fällt, eine Rolle. Einmal bin ich ganz weit nach Osten gesegelt und weder Wind noch Wasser folgten dort meinem Befehl, sie kannten ihre wahren Namen nicht; es ist aber auch möglich, daß es mir an Wissen mangelte.

Die Welt ist riesengroß, das Meer erstreckt sich weiter, als wir es je werden erforschen können, und es gibt Welten außerhalb dieser Welt. Und über diesen Abgründen von Zeit und Raum, glaube ich, behält kein Wort seine ureigentlichste Bedeutung und seine Macht, außer dem Ersten Wort, das Segoy sprach, als er alles schuf, oder dem Letzten Wort, das noch nicht, und erst dann gesprochen wird, wenn alles sein Ende gefunden hat… Und so gibt es selbst hier auf der Erdsee, auf den vielen kleinen Inseln, die wir kennen, Unterschiede und Geheimnisse. Und am unbekanntesten und geheimnisvollsten ist der Südbereich. Nur ganz wenige Zauberer der Innenländer sind hierhergekommen und kennen die Menschen hier. Zauberer sind hier nicht willkommen, denn — so wird behauptet — die Menschen hier besitzen ihre eigene, magische Kunst. Aber die Gerüchte sind vage, und es kann gut sein, daß die magische Kunst hier nie recht Fuß gefaßt hat, daß sie nie recht verstanden wurde. Wenn das der Fall ist, so könnte sie leicht von jemandem, der es darauf abgesehen hat, ganz zunichte gemacht werden, viel leichter jedenfalls als unsere Zauberkunst in den Innenländern. Und zu uns dringt nur die Kunde, daß die Magie im Süden verschwunden sei.

Dort, wo es Selbstdisziplin gibt, dort wirkt unsere Kunst stark und tief; aber dort, wo die Richtung und das Ziel fehlen, dort bleiben die Taten der Menschen oberflächlich und haben keine nachhaltige Wirkung. Denk an die dicke Frau mit ihren Spiegeln! Sie hat ihre Macht verloren, und nun glaubt sie, daß sie nie Macht besessen hat. Und Hase nimmt Hazia und bildet sich ein, weiter zu wandern als der größte Magier, und dabei verirrt er sich bereits in den alleräußersten Gefilden des Traumes … Aber wohin glaubt er zu gehen? Was sucht er? Warum hat er seine Zaubermacht verloren? Von der Stadt Hort, glaube ich, hatten wir genug, und deswegen wenden wir uns jetzt nach Süden, nach Lorbanery, um herauszufinden, was wir herausfinden müssen… Habe ich deine Fragen beantwortet?«

»Ja, aber…«

»Dann laß den Stein eine Weile in Ruhe!« sagte der Magier. Er saß beim Mast, in dem gelblichen, glänzenden Schatten unter dem Sonnensegel, und schaute hinaus aufs Meer, gegen Westen, während das Boot den ganzen Nachmittag lang auf südlichem Kurs dahinglitt. Er saß aufrecht und reglos. Die Stunden verstrichen. Arren ging ein paarmal schwimmen. Er ließ sich vom Heck des Bootes aus geräuschlos ins Wasser gleiten, er wollte nicht an dem dunklen Blick vorbeigehen, der gen Westen gerichtet war, und der weiter als die helle Linie des Horizonts, weiter als die blaue Luft, weiter als das Licht selbst zu reichen schien.

Sperber kehrte endlich aus dem Schweigen zurück und sprach doch nicht mehr als ein gelegentliches Wort. Arren war so erzogen, daß er hellhörig für die Gemütsstimmungen eines Menschen war, er spürte, wenn ein Mensch aus Höflichkeit oder Zurückhaltung seine wahren Gefühle verbergen wollte. Er wußte, daß das Herz seines Gefährten schwer war. Er stellte keine weiteren Fragen mehr. Als es dunkel wurde, fragte er: »Würde es Sie stören, wenn ich singe?« Sperber bemühte sich zu scherzen und sagte: »Das hängt vom Singen ab.«

Arren saß mit dem Rücken gegen den Mast gelehnt und sang. Seine Stimme war nicht mehr so hoch und klar wie vordem, als der Musikmeister in der Halle zu Berila ihn unterrichtet und auf seiner großen Harfe begleitet hatte; die hohen Töne waren nicht mehr so glockenhell, sie waren voller geworden, und die tiefen glichen einer Viola, sie waren dunkel und weich. Er sang des Weißen Zauberers Sterbelied, die Klage Elfarrans, als sie um Morreds Tod wußte und auf ihren eigenen wartete. Nicht oft und nicht leichtfertig wird dieses Lied gesungen. Sperber hörte die junge, starke und sichere Stimme, die voll Trauer und Schmerz unter dem roten Abendhimmel über die weite See klang, und Tränen traten in seine Augen und verschleierten seinen Blick.