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»An seinen wahren Namen?«

»Nein! An den kann ich mich noch erinnern …« Er hielt inne, und drei Herzschläge lang war es totenstill.

»Cob nannten sie ihn in Havnor«, sagte er, und seine Stimme klang verändert, nachdenklich, vorsichtig. Es war zu dunkel, um seinen Gesichtsausdruck wahrzunehmen. Arren sah, wie er sich dem gelben Stern zuwandte, der nun schon hoch über den Wellen stand und einen gebrochenen, goldenen Pfad über sie warf, so fein und schmal wie der Faden einer Spinne. Lange schwieg er; dann sagte er: » Siehst du, nicht nur in Träumen, sondern in schon längst Vergessenem sehen wir, was uns bevorsteht. Wir reden, und es scheint nichts Wichtiges zu sein, weil wir die Bedeutung nicht erkennen wollen.«

LORBANERY

Aus zehn Meilen Entfernung sah Lorbanery ganz grün aus, so grün wie das Moos am Rande eines Brunnens. Im Näherkommen unterschied man Blätter und Baumstämme, Straßen und Häuser, Gesichter und Kleidung von Menschen, den Staub, die Schatten, kurzum alles, was zu einer von Menschen bewohnten Insel gehört. Doch der Gesamteindruck blieb: Lorbanery war eine grüne Insel, auf der jedes Stückchen Land, das nicht bebaut war und auf dem nicht einhergeschritten wurde, mit den kleinen, runden Hurbabäumen bepflanzt war. Die Blätter dieser Bäume sind Futter für die Raupen, aus deren Kokons die dünnen Fäden stammen, aus denen Seide gesponnen wird, die von den Männern, Frauen und Kindern auf Lorbanery zu feinen Geweben verarbeitet wird. In der Dämmerung flitzen Hunderte von Fledermäusen durch die Luft, die sich von den Seidenraupen ernähren. Und die Leute von Lorbanery wehren ihnen nicht, ja sie betrachten es sogar als ein böses Omen, eine dieser grauflügeligen Fledermäuse zu töten. Denn, so sagen sie, wenn wir Menschen von den Seidenraupen leben, so haben die kleinen Fledermäuse das gleiche Recht dazu.

Die Häuser sahen lustig aus; ihre kleinen Fenster waren ganz unregelmäßig angeordnet, und ihre Dächer waren mit Hurbazweigen gedeckt, die mit Moos und Flechten bewachsen waren und sich grün über die Häuserwände wölbten. Es mußte einst eine wohlhabende Insel gewesen sein; erstaunlich, wenn man in Betracht zog, daß es eine Insel der Außenbereiche war, die gewöhnlich weniger reich als die Inseln des Innenmeeres sind. Spuren einstigen Reichtums waren noch überall sichtbar. Man konnte sehen, daß die Häuser einst gut verputzt und gut eingerichtet gewesen waren; große Spinnräder waren noch zu sehen und große Webstühle und Hallen, wo früher geschäftig gearbeitet wurde; der Hafen von Sosara hatte verschiedene, aus Stein gebaute Piers, an denen Dutzende von Galeeren gleichzeitig festmachen konnten. Doch die Anlegestellen waren leer, der Verputz an den Häusern war abgebrökkelt, die Möbel waren alt und wurmstichig, und die Spinnräder und Webstühle standen still, Staub lagerte darauf, und Spinnweben zogen sich von Pedal zu Pedal, von den Kettfäden zu den Rahmen.

»Zauberer?« sagte der Bürgermeister von Sosara, ein kleiner Mann mit einem Gesicht, das so hart und lederbraun war wie die Sohlen seiner nackten Füße. »In Lorbanery gibt es keine Zauberer, hat es noch nie welche gegeben.«

»Wer hätte das gedacht!« sagte Sperber erstaunt. Er saß mit acht oder neun der Dorfbewohner zusammen und trank Hurbabeerenwein, ein dünnes, bitteres Getränk. Er hatte ihnen notgedrungen sagen müssen, daß er und sein Gefährte in den Südbereich gesegelt waren, um Emmelsteine zu suchen, aber sonst hatte er sich nicht verändert. Arren hatte sein Schwert wieder auf dem Boot gelassen, und wenn Sperber seinen Stab dabei hatte, waren sie gut genug gerüstet. Die Dorfbewohner waren zunächst mißtrauisch gewesen, und es sah eine Weile so aus, als ob sie sich feindlich verhalten würden, aber dank Sperbers Geschick und seiner Gewandtheit mit Worten durften sie sich beide — mit Vorbehalt allerdings — ihnen zugesellen. »Hier muß es Leute geben, die gut mit Bäumen umzugehen wissen«, sagte er jetzt. »Was macht ihr denn, wenn ein später Frost kommt?«

»Nichts«, antwortete ein magerer Mann am Ende der Reihe. Sie saßen alle nebeneinander unter dem Dachvorsprung, mit dem Rücken an die Hauswand des Wirtshauses gelehnt, und direkt vor ihren nackten Füßen klatschte der warme Aprilregen auf die Erde.

»Regen, nicht Frost, richtet Schaden an«, sagte der Bürgermeister. »Die Kästen mit den Raupen verfaulen. Kein Mensch hält Regen zurück. Hat noch keiner fertiggebracht.« Das Thema Zauberer und Zauberei schien ihn aufzubringen, einige der anderen waren weniger erbost, und einer sagte: »Hat nie geregnet, nicht zu dieser Jahreszeit jedenfalls, als der Alte noch am Leben war.«

»Wer? Der alte Mildi? Der lebt nicht mehr. Der ist tot«, sagte der Bürgermeister.

»Baumgärtner haben sie ihn geheißen«, sagte der Magere. »Stimmt, Baumgärtner hieß er«, bestätigte ein anderer. Alle schwiegen, der Regen raunte.

Arren saß am Fenster in der Gaststätte drinnen, die nur aus einem Raum bestand. Er hatte eine alte Laute gefunden, die an der Wand gehangen hatte, eine der Lauten, die nur drei Saiten haben, wie man sie nur auf der Seideninsel kennt. Er versuchte ihr Töne zu entlocken, aber er spielte ganz leise, nicht viel lauter als der Regen, der auf das Moosdach fiel.

»Auf den Märkten in Hort«, sagte Sperber, »verkaufen sie Stoffe und preisen sie als Seide aus Lorbanery an. Manche sind tatsächlich Seide, aber sie stammt nicht aus Lorbanery.«

»Wir hatten vier oder fünf schlechte Jahre«, seufzte der Magere.

»Fünf Jahre sindʹs her, am Brachmond hatʹs angefangen«, sagte ein alter Mann; er sprach mit kauender Bewegung und mehr zu sich selbst, als zu den anderen. »Ja, ja, seit der alte Mildi gestorben ist, und der ist tot, und war lange nicht so alt wie ich. Am Brachmondabend, ja, ja, da ist er gestorben.«

»Mangel treibt die Preise hoch«, sagte der Bürgermeister. »Für einen Ballen mittelfeiner Blauer kriegen wir jetzt soviel wie früher für drei.«

»Wenn wir überhaupt was kriegen! Wo sind denn die Schiffe? Und das Blau ist nicht echt«, sagte der Magere, und es entspann sich ein halbstündiger Streit über die Qualität der Farben, die in der großen Arbeitshalle verwendet wurden.

»Wer macht die Farben?« fragte Sperber, und ein neuer Disput entbrannte. Es stellte sich heraus, daß das Färben in den Händen einer Familie gelegen hatte, die sich tatsächlich Zauberer nannten, aber wenn es Zauberer gewesen waren, so hatten sie ihre Kunst verloren, und kein Mensch hatte sie wiedergefunden, wie der Magere mit saurer Miene feststellte. Und alle, außer dem Bürgermeister, stimmten überein, daß das berühmte Blau von Lorbanery und das unvergleichliche Purpur, das ›Drachenfeuer‹, das die Königinnen von Havnor dereinst getragen hatten, nicht mehr das gleiche waren. Irgend etwas fehlte an den Farben. Vielleicht war der Regen zu jeder Jahreszeit, oder die Farberde, oder der Färber daran schuld. »Auf die Augen kommtʹs an«, sagte der Magere. »Es gibt Leute, die ein echtes Azur nicht von blauem Dreck unterscheiden können«, und er blickte den Bürgermeister herausfordernd an. Doch der war nicht gewillt, den Streit fortzusetzen. Alle schwiegen wieder.

Der dünne, saure Wein schien ihre Gemütsverfassung zu beeinflussen, die Gesichter blickten immer verdrossener drein. Nur das Rauschen des Regens zwischen den unzähligen Blättern der Bäume, die in den Gärten des Tales standen, das Flüstern des Meeres am Ende der Straße und das leise Klingen der Laute in der Dunkelheit des Hauses waren zu vernehmen.

»Kann er singen, Ihr Junge mit dem Mädchengesicht?« fragte der Bürgermeister.

»Aber sicher kann er singen. Arren! Stimm was an, mein Junge! «

»Es gelingt mir nicht, die Laute aus dem Moll herauszulocken«, sagte Arren lächelnd aus dem Fenster. »Sie will weinen, die Laute. Was wünschen Sie zu hören?«

»Was Neues«, brummte der Bürgermeister.

Die Laute trillerte. Er hatte schon herausgefunden, wie sie zu spielen war. »Das ist vielleicht neu hier«, sagte er. Dann hob er an: