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Bei den weißen Meeresstraßen von Solea, bei den tiefhängenden roten Zweigen, die ihre Blüten über mein gebeugtes Haupt neigen, schwer vom Kummer um den verlorenen Liebsten, bei dem roten Zweig und bei dem weißen Zweig, bei dem Schmerz, der nie versiegen wird, schwöre ich, Serriadh, ich, Morreds und meiner Mutter Sohn, daß ich auf ewig und immerdar des Unheils gedenken werde, das geschehen ist, auf ewig und immerdar.

Niemand rührte sich: die verbitterten und die schlauen Gesichter, die abgearbeiteten Hände, die gebeugten Körper, alles war still. Sie saßen im warmen Regen, in der Dämmerung des Südens, und hörten das Lied, das wie der Schrei eines grauen Schwanes über die kalte See bei Ea, klagend und tief traurig, in ihre Herzen drang. Sie schwiegen noch lange, nachdem das Lied geendet hatte.

»Das ist ein komischer Gesang«, meinte schließlich einer zögernd.

Und ein anderer, überzeugt, daß die Insel Lorbanery im Mittelpunkt aller Länder und Zeiten liege, meinte: »Fremde Musik ist immer komisch — und trübselig dazu.«

»Jetzt gebt ihr ein Lied zum Besten!« munterte sie Sperber auf. »Ich persönlich würde gern was Handfestes hören. Der Junge hier singt immer von alten Helden, die schon längst tot sind.«

»Gut, ich sing’ euch was«, sagte der Mann, der zuletzt gesprochen hatte. Er war zunächst etwas verlegen, doch dann stimmte er ein munteres Trinklied an, vom Wein, der so lieblich und rein, mit einem Trallalala und einem Fallalala am Ende, doch niemand fiel in den Refrain ein, und er sang sein Lied nicht zu Ende.

»Selbst das Singen klappt nicht mehr«, sagte er ärgerlich. »Da sind die jungen Leute dran schuld, alles muß gekürzt und geändert werden, alles Alte ist schlecht, und keiner will mehr die alten Lieder lernen!«

»Das ist es nicht«, sagte der Magere. »Nichts klappt mehr. Nichts ist mehr so, wie es war. Das Glück hat uns verlassen.«

»Stimmt, stimmt«, ließ sich die dünne Stimme des alten Mannes vernehmen. »Das Glück fehlt. Fort istʹs. Daran liegtʹs.«

Darauf ließ sich nichts erwidern, und die Dorfbewohner verließen das Gasthaus zu zweit und zu dritt, bis Sperber allein draußen vor dem Fenster saß. Und Arren hörte drinnen, wie er lachte, aber es war ein bitteres Lachen.

Die scheue Frau des Schankwirts kam, breitete Strohsäcke und Decken auf dem Boden für sie aus und verschwand sofort wieder. Sie legten sich zum Schlafen nieder. Zahllose Fledermäuse nisteten in dem hohen Dachgebälk und flogen die ganze Nacht mit unaufhörlichem Gepiepse durch die unverglasten Fenster aus und ein. Erst als die Morgendämmerung kam, kehrten sie alle zurück und hängten sich, sorgfältig hintereinander angeordnet wie kleine graue Bündelchen, an den Dachbalken auf.

Vielleicht war die Rastlosigkeit der Fledermäuse an Arrens unruhigem Schlaf schuld. Viele Nächte waren vergangen, seit er nicht mehr an Land geschlafen; sein Körper war nicht mehr an die unbewegliche Erde gewöhnt und bestand darauf, daß er geschaukelt werde, geschaukelt, bevor er einschlafe, doch dann — plötzlich — tat sich der Boden unter ihm auf, und er erwachte mit einem Ruck. Dann, als er endlich einschlief, träumte er, daß er im Laderaum des Sklavenfängers angekettet war, und die Männer, an die er gekettet war, waren alle tot. Mehr als einmal schreckte er aus diesem Traum auf und versuchte ihn zu vergessen, doch sobald er wieder einschlief, nahm der gleiche grausige Traum seinen Fortgang. Schließlich fand er sich allein auf diesem Schiff, doch war er noch immer angekettet und konnte sich nicht bewegen. Dann vernahm er eine ganz merkwürdige Flüsterstimme, die ihm langsam ins Ohr zischelte: »Be … frei… dich … von … dei… nen … Fes … seln!« und noch einmaclass="underline" »Be … frei…« Daraufhin versuchte er sich zu bewegen, und siehe da, er konnte sich bewegen. Er stand auf. Er schaute sich um und sah ein immenses, dunkel verhangenes Moor unter einem tiefen bleiernen Himmel. Die Erde und die stickige Luft erfüllten ihn mit Grauen. Dieser Ort war die Furcht selbst, er bestand aus Beklemmung und Schrecken. Und er, Arren, stand inmitten dieses Ortes, und es gab keinen Weg, und er war ganz klein, wie ein Kind, wie eine Ameise, und der Ort war grenzenlos, endlos, unheimlich. Er versuchte zu gehen, stolperte und wachte auf.

Jetzt, da er nicht mehr schlief, schlich sich die Furcht in sein Herz; sie war jetzt in ihm, er war nicht mehr in ihr, und sie war nicht geringer geworden, sie war noch immer grenzenlos. Er glaubte in dem dunklen Raum ersticken zu müssen, und suchte mit den Augen nach den Sternen im schwachumrissenen Viereck des Fensters, doch keine Sterne waren zu sehen, obwohl der Regen aufgehört hatte. Er lag wach auf seinem Lager und fürchtete sich. Die Fledermäuse flogen ein und aus, auf lautlosen, ledernen Schwingen, und er konnte ihre wispernden Stimmen, an der Schwelle der Hörbarkeit, ab und zu vernehmen.

Der Morgen brach hell an. Sie standen sehr früh auf, und Sperber erkundigte sich überall ernsthaft nach Emmelstein. Einige der Dorfbewohner glaubten zu wissen, was Emmelstein war, doch jeder hatte seine eigene Ansicht, die er sich von keinem nehmen ließ, und es entspannen sich darüber hitzige Wortwechsel. Sperber hörte aufmerksam zu, aber es war nicht das Für und Wider des Emmelsteins, das ihn interessierte, er spitzte die Ohren, um einen Einblick in andere Dinge zu erlangen. Schließlich folgten sie dem Rat des Bürgermeisters und machten sich auf den Weg zu einem Steinbruch, wo das Mineral für den blauen Farbstoff gebrochen wurde. Doch Sperber wandte sich bald vom Weg ab.

»Das hier muß das Haus sein«, sagte er. »Hier an diesem Weg muß die Familie der Färber und der in Ungnade gefallenen Zauberer wohnen.«

»Lohnt es sich denn, mit ihnen zu reden?« fragte Arren, der sich nur noch allzugut an Hase erinnerte.

»Irgendwo ist der Mittelpunkt dieses ganzen unheimlichen Wesens«, sagte der Magier kurz. »Irgendwo ist der Ort, wo das Glück durchrinnt. Und dorthin, zu diesem Ort, brauche ich einen Führer!« Und er ging weiter, ohne anzuhalten, und Arren hatte keine andere Wahl, er mußte ihm folgen.

Das Haus stand abseits von den Baumgärten, die zu ihm gehörten. Es war ein stattliches Haus, aber es sah ziemlich verwahrlost aus, genauso verwahrlost wie die Felder ringsum. Die Kokons ungesammelter Seidenraupen hingen, teils zerfetzt, an den leeren Zweigen, und auf dem Boden darunter lagerten graue Schichten toter Larven und Motten. Von dem Haus, das unter Bäumen stand, ging ein Geruch der Verwesung aus, der Arren abrupt an den entsetzlichen Traum der vergangenen Nacht erinnerte.

Sie hatten das Haus noch nicht ganz erreicht, als die Tür aufflog und eine grauhaarige Frau mit geröteten Augen herausstürzte und schrie: »Fort, fort mit euch! Ihr Lumpenpack, ihr Diebe, ihr Verleumder, ihr Lügner, ihr Schafsköpfe, ihr Geschmeiß! Fort mit euch! Seid verflucht, ihr Gesindel!«

Sperber blieb ziemlich überrascht stehen, dann hob er die Hand und vollführte eine seltsame Geste. Er sprach nur ein Wort: »Wende!«

Die Frau blieb wie angewurzelt stehen, als sie das hörte. Sie starrte ihn an.

»Warum hast du das getan?«

»Um deinen Fluch von uns abzuwenden.«

Sie starrte noch immer; schließlich sagte sie mit rauher Stimme: »Fremde?«

»Aus dem Norden.«

Sie näherte sich. Arren war zuerst versucht gewesen, über das alte Weib, das schreiend unter ihrer Tür stand, zu lachen. Doch als sie näherkam, schämte er sich. Sie war abstoßend und trug nur Lumpen, ihr Atem roch, doch ihre starrenden Augen sprachen von Schmerz und Pein.

»Ich habe keine Macht zum Fluchen mehr«, sagte sie gequält, »keine Macht.« Sie ahmte Sperbers Geste nach. »Das macht man immer noch dort, wo du herkommst?«

Er nickte. Sein Blick ruhte auf ihr, und sie schaute ihn an. Nach einer Weile veränderten sich ihre Züge, und sie fragte: »Wo ist dein Stab?«