Mit Sperber sprach er nie darüber. Er sprach überhaupt nur Belangloses mit ihm, meist hing es mit dem täglichen Segeln zusammen; Sperber, aus dem man schon immer jedes Wort hatte herausquetschen müssen, schwieg nun dauernd.
Arren sah jetzt ein, welch ein Narr er gewesen war, als er sich mit Leib und Seele diesem ruhelosen, verschwiegenen Mann anvertraut hatte, der sich von Impulsen beherrschen ließ und keinerlei Anstrengung machte, sein Leben vernünftig zu führen, und selbst dem Tode nicht auszuweichen schien. Eine verwegene Stimmung war über Sperber gekommen, und Arren glaubte den Grund dafür zu wissen: Sperber wollte sein eigenes Versagen nicht wahrhaben — das Versagen der Zauberkraft, wollte nicht wahrhaben, daß sie keine Macht mehr hatte.
Denjenigen, denen die Geheimnisse der Zauberkunst vertraut waren, war bewußt geworden, daß es mit der magischen Kunst, aus der Sperber und all die Generationen von Zauberern und Hexenmeister so viel Aufhebens gemacht hatten, im Grunde wenig auf sich hatte. Sie konnten Wind und Wetter handhaben, sie kannten die Heilkräuter, sie waren bewandert in Illusionsküsten mit Nebel, Licht und Verwandlungen, mit denen sie Uneingeweihte beeindrucken konnten, die aber letzten Endes doch nichts weiter als Tricks waren. Die Wirklichkeit blieb unangetastet. Magische Kunst gab keinem Menschen Macht über einen anderen, und gegen den Tod war auch sie wirkungslos. Magier lebten auch nicht länger als gewöhnliche Menschen. All ihren geheimen Worten gelang es nicht, ihre Sterbestunde auch nur für kurze Zeit hinaus zu schieben.
Selbst in alltäglichen Dingen war nur wenig damit anzufangen. Sperber war immer sehr geizig mit seinen Künsten, sie segelten mit dem Wind der Welt, wenn immer es möglich war, sie fischten, um sich zu ernähren, und er war mit dem Wasser so sparsam wie jeder andere Seemann. Nach vier Tagen ununterbrochenen Kreuzens in einem unbeständigen Gegenwind fragte Arren, ob er nicht einen kleinen achterlichen Wind in ihre Segel rufen könne, und als der den Kopf verneinend schüttelte, fragte Arren: »Warum nicht?«
»Ich würde von keinem kranken Menschen verlangen, daß er ein Wettrennen laufe«, sagte Sperber, »und ich würde auch keinen Stein auf einen Rücken legen, der sich unter einer schweren Last krümmt.« Es war nicht klar, ob er von sich selbst, oder von der Welt im allgemeinen sprach. Seine Antworten kamen immer widerwillig heraus und waren immer schwer verständlich. Das, dachte Arren, war im Grunde die ganze Zauberkunst: auf gewichtige Dinge anspielen, in Wirklichkeit aber doch nichts sagen und Nichtstun als die Krone der Weisheit hinzustellen.
Arren hatte versucht, Sopli zu ignorieren, aber das war unmöglich; es kam sogar bald so weit, daß er in ihm eine Art Verbündeten sah. Sopli war nicht so verrückt, oder wenigstens nicht so einfach verrückt, wie sein wildes Haar und seine bruchstückhafte Rede es vermuten ließen. Das Verrückteste an ihm war seine maßlose Furcht vor dem Wasser. Es mußte ihn ungeheuren Mut gekostet haben, in das Boot zu steigen, und seine Furcht hatte sich seither kaum gelegt, er hielt seinen Kopf dauernd gesenkt, hauptsächlich, um nicht auf das Wasser blicken zu müssen, das sich unaufhörlich um ihn herum hob und senkte. Das Aufstehen machte ihn schwindlig, und er klammerte sich am Mast fest. Als Arren das erste Mal einen Kopfsprung vom Boot aus ins Wasser machte, schrie Sopli voll Entsetzen auf; als Arren ins Boot zurückgeklettert kam, sah der arme Kerl ganz grünlich aus vor Angst. »Ich dachte, du wolltest dich ertränken«, sagte er, und Arren mußte lachen.
Am Nachmittag des gleichen Tages, als Sperber meditierend im Boot saß und nicht wahrnahm, was um ihn herum vor sich ging, kam Sopli vorsichtig über die Ruderbank zu Arren gerutscht. Er sagte leise: »Du willst nicht sterben, oder?«
»Natürlich nicht.«
»Er will«, sagte Sopli und bewegte sein Kinn leicht in Sperbers Richtung.
»Warum sagst du das?«
Arren sprach in einem gebieterischen Ton mit ihm, der ihm ganz selbstverständlich schien, und den Sopli auch als ganz natürlich hinnahm, obwohl er mindestens zehn bis fünfzehn Jahre älter als Arren war. Er antwortete bereitwillig und ziemlich normal, doch war seine Rede, wie immer, unzusammenhängend. »Er will zu dem geheimen Ort gelangen … Ich weiß aber nicht, warum. Er will nicht… Er glaubt nicht an das … das Versprechen.«
»Welches Versprechen?«
Sopli warf ihm einen kurzen Blick zu; etwas von seiner verlorenen männlichen Würde schien gekränkt zu sein. Doch Arrens Wille war stärker. Er antwortete flüsternd: »Du weißt doch… Das Leben… das ewige Leben.«
Arrens Körper durchlief es eiskalt. Er erinnerte sich an seine Träume: das Moor, der runde Schacht, die Felsen, das trübe Licht. Das war der Tod, das war das Grauen des Todes. Der Tod war es, dem er entrinnen mußte, dieser Weg war es, den er suchte. Und auf der Schwelle stand eine Gestalt, von Schatten eingehüllt, die ihm ein kleines Licht, nicht größer als eine Perle, entgegenhielt, das glimmende Licht unsterblichen Lebens.
Zum ersten Mal blickte Arren in Soplis Augen: sie waren hellbraun und ganz klar, und er sah darin, daß er endlich verstanden hatte und daß Sopli dieses Wissen mit ihm teilte.
»Er«, sagte der Färber, und wiederum zuckte sein Kinn in Sperbers Richtung, »er will seinen Namen nicht hergeben. Und niemand kann seinen Namen dorthin mitnehmen. Der Weg ist viel zu schmal.«
»Hast du ihn gesehen?«
»Im Dunkel, in meinem Geist. Das genügt nicht. Ich will ihn sehen; mit meinen Augen, in dieser Welt will ich ihn sehen. Wenn ich — wenn ich sterben würde und den Weg, den Ort, nicht finden könnte? Die meisten Leute finden ihn nicht, die wissen nicht einmal, daß er existiert. Nur manche haben die Macht. Aber es ist schwer, denn man muß seine Macht aufgeben, um dorthin zu gelangen … Keine Worte mehr, keine Namen. Es ist zu schwer, man kann es nicht im Geist tun. Und … wenn man … stirbt…, der Geist… der… stirbt auch.« Er stockte bei jedem Wort. Dann fuhr er fort: »Ich will wissen, ob ich zurückkommen kann. Ich will dorthin, auf die andere Seite des Lebens. Ich will leben, ich will sicher sein. Ich hasse … ich hasse dieses Wasser…«
Der Färber krümmte sich zusammen, wie es eine Spinne tut, wenn sie herunterfällt, und er zog den Kopf mit dem krausen roten Haar tief zwischen die Schultern — er konnte den Anblick des Wassers nicht ertragen.
Arren vermied es von nun an nicht mehr, sich mit Sopli zu unterhalten. Jetzt wußte er, daß Sopli nicht nur seine Träume, sondern auch seine Furcht teilte, und daß er, wenn es zum Alleräußersten kommen sollte, einen Verbündeten gegen Sperber haben würde.
Tagaus, tagein segelten sie gen Westen. In der Windstille und den unberechenbaren Brisen kamen sie nur langsam vorwärts, dorthin, wohin Sopli sie leitete, wie Sperber vorgab. Doch Sopli leitete sie nicht, denn er, der überhaupt nichts vom Meer verstand, der noch nie eine Seekarte gesehen hatte, der noch nie zuvor in einem Boot gesessen hatte, er hatte eine tödliche Angst vor dem Wasser. Der Magier leitete sie, und er führte sie mit Absicht ins Unheil. Das war Arren inzwischen ganz klar, und er wußte auch, warum er das tat. Der Erzmagier hatte erkannt, daß sie und noch andere das ewige Leben suchten, daß es ihnen versprochen worden war, daß sie davon angezogen wurden und es vielleicht finden würden. Und in seinem Stolz, in seinem maßlosen Stolz als Erzmagier fürchtete er, daß sie es möglicherweise erlangen könnten; er beneidete und fürchtete sie, denn er konnte nicht zulassen, daß es einen Menschen gab, der größer als er selbst war. Daher war er entschlossen, hinaus auf die hohe See zu segeln, fern von allen Küsten, bis sie völlig verloren waren und nie mehr ihren Weg zurück zur bewohnten Welt finden würden; dort würden sie den Tod des Verdurstens erleiden. Er selbst war bereit zu sterben, nur um zu verhindern, daß sie das ewige Leben erlangten.