Doch ab und zu sprach Sperber zu ihm über irgendeine Nebensächlichkeit, die sich auf das Segeln oder auf das Boot bezog, oder er schwamm mit ihm in dem warmen Wasser oder wünschte ihm eine gute Nacht unter den helleuchtenden Sternen, und in diesen Augenblicken kamen dem Jungen all diese Gedanken völlig unsinnig vor. Er blickte seinem Gefährten ins Gesicht, er sah seine harten, strengen, geduldigen Züge, und er dachte: »Das ist mein Gebieter und mein Freund.« Und es kam ihm unfaßbar vor, daß er an ihm hatte zweifeln können. Doch kurz danach stiegen wiederum Zweifel in ihm auf, und er und Sopli warfen sich warnende Blicke zu, die sie gegen ihren gemeinsamen Feind verbündeten.
Die Sonne schien jeden Tag gleichbleibend heiß, doch fehlte es ihr an Glanz. Ihr Licht lag matt auf den langsam dahinrollenden Wellen des Meeres. Wasser und Himmel waren gleichmäßig blau, ohne Unterschiede, ohne Schattierungen. Die Brisen erhoben sich kurz und starben dann wieder ab, und sie wandten das Segel, um den Wind aufzufangen und bewegten sich langsam vorwärts, keinem Ufer, keinem Land entgegen, sondern dorthin, wo es kein Ende gab.
Ein Nachmittag kam, an dem sie einen stetigen, achter liehen Wind hatten. Sperber deutete nach oben, als der Sonnenuntergang nahe war und sagte: »Schau!« Hoch über dem Mast flog eine Schar Wildgänse in einer krummen Linie, die wie eine schwarze Rune aussah, über den hellen Himmel. Die Gänse flogen nach Westen: die Weitblick, ihnen folgend, steuerte Land an am nächsten Tag; es schien eine große Insel zu sein.
»Das ist es«, sagte Sopli. »Dieses Land, dort müssen wir hingehen.«
»Der Ort, den du suchst, der ist dort?«
»Ja. Wir müssen landen. Weiter können wir nicht fahren.«
»Das muß die Insel Obehol sein. Weiter westlich ist eine andere Insel, Wellogy. Und es gibt noch mehr Inseln, weiter draußen im Westbereich. Bist du sicher, Sopli?«
Der Färber von Lorbanery wurde zornig, und der verstörte Ausdruck kehrte in seine Augen zurück, aber Arren fand, daß er nicht irr redete, nicht wie damals, vor vielen Tagen, als sie zum ersten Mal mit ihm auf Lorbanery gesprochen hatten. »Ja. Dort müssen wir landen. Wir sind weit genug gefahren. Der Ort, den wir suchen, ist hier. Soll ich schwören, daß ich es weiß? Soll ich bei meinem Namen schwören?«
»Das kannst du nicht«, sagte Sperber mit harter Stimme und schaute zu Sopli auf, der einen Kopf größer war als er. Sopli war aufgestanden und klammerte sich am Mast fest, um zu dem Land hinüber zu blicken. »Versuch es nicht, Sopli!«
Der Färber sah böse drein, Wut und Schmerz mischten sich auf seinem Gesicht. Er schaute auf die Berge, die blau in der Ferne vor ihnen lagen, über die rollende, bewegte Wasserfläche und sagte: »Du hast mich als Führer mitgenommen. Das ist der Ort. Wir müssen hier landen.«
»Wir gehen so oder so an Land hier, denn wir brauchen Wasser«, erwiderte Sperber und übernahm die Ruderpinne. Sopli kauerte wieder an seinem Platz neben dem Mast, und Arren hörte, wie er unablässig vor sich hinmurmelte: »Ich schwör bei meinem Namen, bei meinem Namen«, und jedes Mal, wenn er es sagte, verzog sich sein Gesicht, als litte er große Schmerzen.
Der Wind blies aus dem Norden, als sie sich der Insel näherten und im heißen Sonnenlicht der Küste entlang segelten, um eine Bucht oder einen Landeplatz zu finden. Doch die Wellen brandeten mit donnerndem Getöse überall an die schroffe nördliche Küste. Weiter drinnen auf der Insel erhoben sich Hügel, die, von Sonnenlicht übergössen, bis an die Gipfel von Bäumen bekleidet waren.
Sie umsegelten ein Vorgebirge und sahen endlich eine tiefe, sichelförmige Bucht mit weißem Sandstrand vor sich liegen. Die Wellen rollten sanft ans Ufer, ihre Wucht wurde von dem Vorgebirge abgehalten. Hier konnte ein Boot landen. Kein Mensch war am Ufer oder in den Wäldern, die sich dahinter erhoben, zu sehen; kein Boot, kein Dach, keine Rauchspur war sichtbar. Die leichte Brise starb ab, sobald die Weitblick in die Bucht segelte. Alles war ruhig und still. Die Sonne brannte. Arren übernahm die Ruder. Sperber steuerte. Das Knirschen der Ruder in den Dollen war das einzig vernehmbare Geräusch. Die grünen Gipfel ragten über der Bucht auf, schlössen sie ein. Die Sonne lag wie ein glühendheißes Laken über dem Wasser. Arren hörte sein Blut in den Ohren pulsieren. Sopli hatte die Sicherheit des Mastes aufgegeben und hielt sich, im Vorderteil des Schiffes kauernd, am Dollbord fest. Seine Augen waren starr aufs Land gerichtet. Sperbers dunkles, vernarbtes Gesicht war schweißbedeckt und glänzte, als sei es geölt; seine Augen schweiften unablässig von den niedrigen Brandungswellen hinauf zu den grünbewachsenen Höhen und wieder zurück.
»Jetzt«, sagte er zu Arren und dem Boot. Arren zog die Riemen dreimal kräftig durch, und die Weitblick glitt hinauf auf den Sand und setzte sanft auf. Sperber sprang aus dem Boot, um es mit Hilfe der letzten Welle vollends das Ufer hinauf zu schieben. Als er seine Hand ausstreckte, stolperte er und wäre gefallen, wenn er sich nicht am Heck festgehalten hätte. Unter Aufbietung aller Kräfte zog er das Boot zurück ins Wasser, als die Welle zurückrollte, und warf sich selbst hinein ins Boot, gerade als es zwischen Wasser und Ufer hing. »Rudere!« keuchte er vor Anstrengung und versuchte, während das Wasser an ihm hinabströmte, auf alle viere gestützt, ruhiger zu atmen. In seiner Hand hielt er einen Speer — einen halben Meter langen Wurfspeer mit einer Bronzespitze. Woher war der gekommen? Ein anderer Speer kam geflogen, während Arren verwirrt die Ruder in den Händen hielt. Der Speer schlug an der Seite der Ruderbank auf, zersplitterte das Holz und prallte, sich überschlagend, zurück. Auf den niedrigen Hügeln und am Ufer unter den Bäumen sah man Menschen rennen, die sich hinter den Büschen duckten. Die Luft war erfüllt von einem pfeifenden, zischenden Geräusch. Arren zog schleunigst den Kopf ein, beugte sich nach vorne und ruderte mit mächtigen Schlägen: zwei genügten, um sie aus den Untiefen herauszubringen, mit drei weiteren hatte er das Boot herumgedreht und trieb es mit Leibeskräften über die Bucht davon.
Sopli, im Bug des Schiffes hinter Arrens Rücken stehend, begann zu schreien. Arrens Arme wurden plötzlich gepackt, so daß die Riemen aus dem Wasser hochschössen. Das Ende eines Riemens stieß in seine Magengrube. Es wurde ihm einen Augenblick lang schwarz vor den Augen und verschlug ihm den Atem. »Dreh um! Dreh um!« schrie Sopli. Das Boot schlingerte und rollte steuerlos auf dem Wasser. Arren wandte sich um, sobald er die Riemen wieder zu fassen bekam. Er war wütend. Sopli war plötzlich nicht mehr an Bord.
Das tiefe Wasser der Bucht hob und senkte sich leise und schillerte im Sonnenlicht.
Arren, wie vor den Kopf geschlagen, blickte erst um sich, dann auf Sperber, der im Heck des Schiffes kauerte. »Hier«, sagte Sperber und deutete auf eine Stelle neben dem Boot, aber da war nichts zu sehen außer dem Wasser und dem blendenden Schimmer des Sonnenlichtes. Ein Speer, mit einer Wurfstange geschleudert, landete dicht beim Boot und verschwand geräuschlos im Wasser. Arren zog kräftig durch und brachte das Boot zehn oder zwölf Schläge weiter weg vom Ufer, dann hielt er inne und blickte fragend auf Sperber.