Выбрать главу

Die höflichen Manieren des Verabschiedens völlig vergessend, eilte Arren zur Tür, strahlend, gehorsam, ungestüm. Und Ged der Erzmagier blickte ihm nach.

Ged blieb eine Weile beim Brunnen unter der Eberesche stehen. Dann hob er sein Gesicht zum sonnenklaren Himmel empor: »Ein lichter Bote mit unheilvoller Kunde«, sprach er halblaut, zum Brunnen gewandt. Der hörte nicht zu, sondern fuhr fort, in seiner eigenen Silberstimme zu reden, und Ged hörte ihm eine Weile zu. Dann ging er auf eine andere Tür zu, die Arren nicht gesehen hatte, die nur wenigen Augen sichtbar war, ganz gleich, wie nahe sie darauf schauten, und sagte: »Meister Pförtner!«

Ein kleiner Mann unbestimmten Alters erschien. Jung war er nicht mehr, so daß man ihn als alt bezeichnen mußte, doch alt war auch nicht passend. Sein Gesicht war eingefallen und hatte die Farbe von Elfenbein angenommen. Er hatte ein anziehendes Lächeln, das lange Furchen in seine Wangen grub: »Was ist los, Ged?« fragte er.

Denn sie waren allein, und er gehörte zu den sieben Menschen auf der Welt, die des Erzmagiers wahren Namen kannten. Die anderen waren der Meister Namengeber auf Rok; und Ogion der Schweigsame, der Zauberer von Re Albi, der vor langer Zeit Ged diesen Namen auf dem Berg Gont gegeben hatte; und die Weiße Dame von Gont, Tenar mit dem Ring; und ein Dorfzauberer auf Iffisch, der Vetsch genannt wurde; und wieder auf Iffisch die Frau eines Zimmermanns, die Mutter von drei Mädchen, die der Zauberei unkundig, doch weise in anderen Dingen war, und die Jarro hieß; und schließlich, auf der anderen Seite der Erdsee, im äußersten Westen, zwei Drachen: Orm Embar und Kalessin.

»Wir müssen heute abend zusammenkommen«, sagte der Erzmagier. »Ich werde zum Formgeber gehen. Und ich werde es Kurremkarmerruk wissen lassen, damit er seine Listen zur Seite legt und seinen Schülern einen Abend freigibt und hier bei uns sein kann, wenn auch nicht körperlich. Benachrichtigst du bitte die ändern?«

»Gewiß«, erwiderte der Pförtner lächelnd und verschwand, auch der Erzmagier war verschwunden. Nur der Brunnen redete noch mit sich selbst, heiter und hurtig, ohne Pause, im Sonnenlicht des jungen Frühlings.

Irgendwo westlich vom Großhaus auf Rok, manchmal auch südlich, liegt der Immanente Hain. Auf Karten ist er nicht verzeichnet. Kein Weg führt dorthin und nur diejenigen finden ihn, die den Weg wissen. Selbst Novizen, Städter und Bauern können den Hain sehen, aber immer nur aus der Entfernung: eine Gruppe hoher Bäume, deren grüne Blätter selbst im Frühling golden flimmern. Daraus schlössen sie — die Novizen, Städter und Bauern — daß der Hain in geheimnisvoller Weise beweglich sei. Doch darin täuschen sie sich, denn der Hain ändert seinen Ort niemals. Seine Wurzeln sind die Wurzeln des Seins. Die Welt um ihn herum ist beweglich.

Ged verließ das Großhaus und schritt über die Felder. Er nahm seinen weißen Umhang ab, denn die Sonne stand im Zenit. Ein Bauer, der am braunen Hang pflügte, hob grüßend die Hand. Ged erwiderte den Gruß. Kleine Vögel hoben sich jubilierend in die Luft. Das Funkenkraut war am Erblühen in den Furchen und entlang dem Wege. Hoch am Himmel kreiste ein Falke in weitem Bogen. Ged schaute kurz hinauf und hob wieder grüßend die Hand. Der Vogel schoß pfeilschnell herunter und ließ sich mit gelben Krallen auf dem angebotenen Handgelenk nieder. Es war kein Sperber, sondern ein großer Enderfalke, heimisch auf Rok, dessen Gefieder braun-weiß gemustert war. Er blickte mit einem runden, hellgoldnen Auge von der Seite her auf den Erzmagier, dann klappte er seinen gekrümmten Schnabel zu und blickte Ged von vorne an, mit beiden runden, hellgoldnen Augen. »Furchtlos«, sagte der Erzmagier in der Sprache des Schöpfens.

Der große Vogel hielt sich fest und schlug mit seinen Schwingen. Er blickte unentwegt auf Ged.

»Erhebe dich wieder, Bruder!«

Weit oben am Hügel, unter dem klaren Himmel, stand der Bauer. Er hatte mit seiner Arbeit innegehalten. Im vergangenen Herbst hatte er einmal beobachtet, wie ein wilder Falke sich auf das Gelenk des Erzmagiers niedergelassen hatte und im nächsten Augenblick war der Erzmagier nicht mehr zu sehen gewesen, und zwei Falken stiegen hoch in den Himmel.

Dieses Mal trennten sie sich: der Vogel schwang sich in die Luft, der Mann ging weiter über die schlammigen Felder.

Er erreichte den Pfad, der zum Immanenten Hain führte, ein Pfad, der immer gerade verläuft, gleichgültig, wie Zeit und Welt sich ändern. Ihm folgend gelangte er bald in den Schatten der Bäume.

Die Stämme mancher Bäume waren enorm. Wer sie sah, glaubte nicht mehr, daß der Hain sich von Ort zu Ort bewegte. Sie sahen aus wie Türme, die, grau an Jahren, schon seit unvordenklichen Zeiten stehen; ihre Wurzeln waren den Wurzeln der Berge gleich. Doch unter den Allerältesten gab es manche, deren Laub spärlich und deren Äste schwach waren. Die Bäume waren nicht unsterblich. Unter den Riesen gab es junge, kräftige Bäume, mit dichtbelaubten, hellgrünen Kronen, und Schößlinge, zarte, belaubte Stengel, nicht größer als ein Kind.

Der Grund unter den Bäumen war weich und federnd, ein dunkler, durch die verwesten Blätter vieler Jahre fruchtbarer Boden. Farne und andere Waldpflanzen gediehen hier, doch nur eine Art von Bäumen wuchs hier, für die es keinen Namen in der hardischen Sprache der Erdsee gab. Die Luft unter den Bäumen war frisch und roch nach Erde; sie rief den Geschmack frischen Quellwassers im Mund hervor.

In einer Lichtung, die vor Jahren durch den Sturz eines riesenhaften Baumes geschaffen wurde, traf Ged auf den Meister der Formgebung, der selten diesen Hain verließ. Sein Haar war blond wie Weizen; er war kein Mann aus dem Inselreich. Seitdem der Ring von Erreth-Akbe wieder heil war, unternahmen die Bewohner von Kargad keine Raubzüge mehr. Sie hatten Frieden und gewisse Handelsabkommen mit den Innenländern abgeschlossen, doch war es kein freundlicher Menschenschlag, sie hielten sich fern. Nur hin und wieder, getrieben von Abenteuerlust oder dem Verlangen, die Zauberkunst zu erlernen, kamen junge Krieger oder Kaufmannssöhne nach dem Westen. So hatte es sich auch mit dem Meister der Formgebung zugetragen. An einem regnerischen Morgen, zehn Jahre waren seither verflossen, stand ein schwertgegürteter, junger Wilder, mit rotem Federbusch auf dem Helm, vor der Tür des Großhauses auf Rok und sprach zu Meister Pförtner in befehlendem, fehlerhaften Hardisch: »Ich komme, um zu lernen!« Und heute stand er im grüngoldnen Licht unter den Bäumen, ein großer, schlanker Mann, mit hellem, langem Haar und seltsamen grünen Augen: Meister der Formgebung.

Es war möglich, daß auch er Geds wahren Namen kannte. Doch selbst wenn er ihn wußte, gebraucht hatte er ihn noch nie. Sie begrüßten sich schweigend.

»Was betrachtest du?« fragte der Erzmagier, und der andere antwortete: »Eine Spinne.«

Zwischen zwei großen Grashalmen der Lichtung hatte die Spinne ein Netz gesponnen, eine Spirale, die kunstvoll an ihren Stützen befestigt war. Das Sonnenlicht fing sich in den feinen Silberfäden. In der Mitte wartete die Spinne, ein schwarzgrauer Fleck, nicht größer als eine Pupille.

»Auch sie ist eine Formgeberin«, meinte Ged und schaute auf das zarte Gewebe.

»Was ist das Böse?« fragte der junge Mann.

Das runde Netz mit seinem schwarzen Mittelpunkt schien sie beide zu beobachten.

»Ein Netz, von Menschen gewoben«, antwortete Ged.

In diesem Wald sang keine Vogelstimme. Es war still und jetzt in der Mittagszeit auch heiß. Um sie herum standen Bäume und lagerten Schatten.

»Aus Narveduen und Enlad kam uns Kunde: die Botschaft ist die gleiche.«

»Südlich und südwestlich; nördlich und nordwestlich«, sagte der Formgeber, und seine Augen ruhten auf dem runden Netz.

»Wir kommen heute abend hier zusammen. Dies hier ist der beste Ort, um Rat zu suchen.«

»Ich habe keinen Rat.« Der Formgeber blickte Ged fest an, seine grünlichen Augen waren kalt. »Ich habe Angst«, sagte er. »Die Angst ist da; die Angst sitzt an den Wurzeln.«