»Er war dem Tode nahe«, sagte der Häuptling. »Er muß schlafen. Du gehst zurück zu Sterns Floß. Ich werde dich wieder rufen lassen.« Er erhob sich. Er war sich offensichtlich nicht ganz im klaren; man spürte, daß er nicht genau wußte, wie er Arren behandeln sollte, als Gleichgestellten oder als einen Knaben. Arren zog in seiner jetzigen Lage letzteres vor, er nahm hin, daß er einfach fortgeschickt wurde. Doch dann stand er vor seinem eigenen Problem. Sein Floß war abgetrieben worden, und mehr als hundert Schritte matt glänzendes, leicht bewegtes Wasser lag zwischen ihnen.
Der Häuptling der Kinder der Hohen See richtete noch einmal das Wort an ihn: »Schwimm!« sagte er.
Arren ließ sich vorsichtig ins Wasser gleiten. Es war kühl und fühlte sich angenehm auf seiner sonnenheißen Haut an. Er schwamm zum anderen Floß hinüber und zog sich hinauf. Er sah sich fünf oder sechs Kindern und jungen Leuten gegenüber, die ihn mit unverhohlenem Interesse beobachteten. Ein ganz kleines Mädchen krähte belustigt: »Du schwimmst wie ein Fisch an der Leine.«
»Wie soll ich denn sonst schwimmen?« fragte Arren etwas bestürzt, aber höflich; er hätte zu einem Menschen, so winzig wie diesem, nicht grob sein können. Die Kleine sah wie eine polierte Miniatur aus Ebenholz aus, ganz zierlich und zerbrechlich. »So!« rief sie, glitt wie ein Aal in das funkelnde, glitzernde, ruhelose Wasser und war verschwunden. Erst nach einer geraumen Zeit und in einer unglaublichen Entfernung, sah er ihren schwarzen, glatten Kopf aus dem Wasser auftauchen und hörte ihren schrillen Ruf.
»Komm!« sagte ein Junge, der in Arrens Alter sein mußte, obwohl er seiner Größe und Breite entsprechend höchstens wie ein zwölfjähriger Junge aussah; er blickte ernst drein, und auf seinem Rücken streckte sich die Tätowierung einer blauen Krabbe. Er sprang mit einem Kopfsprung ins Wasser, alle sprangen, selbst der Dreijährige. Arren blieb nichts anderes übrig, als auch zu springen, und er versuchte, nicht zu spritzen.
»Wie ein Aal«, sagte der Junge, der an seiner Schulter aufgetaucht war.
»Wie ein Delphin«, sagte ein hübsches Mädchen mit einem reizenden Lächeln und verschwand in der Tiefe.
»Wie ich«, quietschte der Dreijährige und hüpfte auf und ab wie ein Flaschenkorken.
Bis spät in die Nacht hinein und den ganzen, goldenen Tag lang, der folgte, und während all der Tage, die folgten, schwamm, redete und arbeitete Arren mit den jungen Leuten auf Sterns Floß. Und von all den Abenteuern, die er seit dem Morgen der Tag- und Nachtgleiche, da er mit Sperber Rok verließ, erlebt hatte, schien ihm dieses hier das merkwürdigste zu sein, denn es lag ganz außerhalb von allem, was er auf der Reise oder in seinem Leben je erlebt hatte, und es hatte überhaupt nichts mit dem zu tun, was ihm noch bevorstand. Und nachts, wenn er zwischen den anderen unter den Sternen lag, dachte er: »Es kommt mir vor, als sei ich gestorben, und das hier ist ein Leben nach dem Tode, jenseits der Welt, unter den Söhnen und Töchtern des Meeres…«
Immer bevor er einschlief, schaute er hinauf in den südlichen Himmel und suchte den gelblichen Stern und die Rune des Endens, und er sah Gobardon, und manchmal sah er das kleinere und manchmal auch das größere Dreieck. Aber das Sternbild stieg jetzt später auf, und seine Augen fielen ihm oft zu, bevor es sich ganz vom Horizont gelöst hatte. Die Flöße bewegten sich, Tag und Nacht, immer weiter nach Süden, doch die See blieb sich gleich, denn das Ewig-Veränderliche ändert sich niemals; die warmen Regengüsse des Mais brachen über sie herein und versiegten wieder, die Sterne schienen am nächtlichen Himmel, und den ganzen Tag über strahlte die Sonne.
Arren wußte, daß sie ihr Leben nicht immer auf diese unwirkliche, traumhaft schöne Weise zubringen konnten. Er fragte, wie es im Winter sei, und sie erzählten von endlosem Regen, von heftigen Stürmen, wie die einzelnen Flöße getrennt und fern voneinander sich Woche um Woche vorwärts bewegten, Wellenberg nach Wellenberg erklommen und wieder hinabschossen, unter einem grauen, dunklen, nördlichen Himmel. Im vergangenen Winter hatten sie Wellen »so hoch wie Gewitterwolken« gesehen. Der Begriff von Bergen war ihnen fremd. Waren sie hoch oben auf der Welle, so erblickten sie, noch meilenweit entfernt, die nächste, die langsam auf sie zurollte. Könnten Flöße solche Stürme aushallen? wollte er wissen, und sie sagten, ja, aber nicht immer, wenn sie sich im Frühjahr in den Straßen von Balatran trafen, dann fehlte immer das eine oder andere Floß, manchmal drei, sechs …
Sie heirateten sehr jung. Blaukrabbe, der Junge, der seinen Namen auf dem Rücken tätowiert hatte, und das hübsche Mädchen Albatros waren Mann und Frau, obwohl er erst siebzehn und sie zwei Jahre jünger war. Es gab viele solche jungen Ehen auf den Flößen. Kleinkinder, die an Leinen, von den vier Hauptstützen der Hütten ausgehend, angebunden waren, krabbelten überall herum; während der Mittagshitze kamen sie alle im Schatten der Hütten zusammen und lagen, ein Haufen schlafender, quicklebendiger, kleiner Wesen, auf- und übereinander. Die älteren Kinder mußten auf die jüngeren aufpassen. Frauen und Männer teilten sich in die Arbeiten, die verrichtet werden mußten. Sie wechselten sich ab, den großen, braunblättrigen Seetang zu ernten, den Mg/M der Straßen von Balatran, der wie Farn gezackt war und sechzig bis achtzig Fuß lang sein konnte. Alle halfen zusammen, wenn es darum ging, den Niglu zu einer Art Tuch zu klopfen, oder die starken Fasern zu Seilen zu drehen und in Netze zu knüpfen, oder Fische zu trocknen, oder Werkzeuge aus Walfischbein zu fertigen, und was alles sonst noch zum alltäglichen Leben des Floßvolkes nötig war. Aber sie fanden immer Zeit zum Plaudern und Schwimmen, und Zeitpunkte, zu denen gewisse Arbeiten fertiggestellt sein mußten, gab es bei ihnen nicht. Der Begriff Stunde war ihnen unbekannt, nur Tage und Nächte zählten. Nach einigen Tagen und Nächten kam es Arren vor, als habe er schon ewig auf den Flößen gelebt. Obehol war ein Traum, und dahinter lagen schwächere Träume, und noch viel ferner lag ein Traum, in dem er Prinz gewesen war und auf Enlad gelebt hatte.
Als er endlich auf das Floß des Häuptlings gerufen wurde, blickte ihn Sperber eine Weile an und sagte: »Du siehst aus wie der Arren, den ich im Brunnenhof gesehen habe, so geschmeidig wie ein goldener Aal. Es geht dir hier also recht gut, mein Junge!«
»Ja, mein Gebieter.«
»Aber was heißt das ›hier‹? Wir haben die bewohnte Welt hinter uns gelassen. Wir sind über alle Seekarten hinausgesegelt… Ich habe vor langen Zeiten vom Floßvolk reden hören, aber es immer für eine der Legenden des Südbereiches gehalten, etwas, das keine Basis in der Wirklichkeit hat. Doch wir sind von dieser Legende gefunden worden, und unser Leben wurde von einem Mythos gerettet.«
Er sprach lächelnd, als hätte auch er an dieser träumerischen, zeitlosen Lebensweise teilgenommen, doch sein Gesicht war hager, und in seinen Augen lag eine Tiefe, die kein Licht kannte. Arren sah dies, und er ging ihm nicht aus dem Wege.
»Ich bin des Vertrauens…«, sagte er und stockte, »ich bin des Vertrauens, das Sie in mich setzten, nicht wert.«
»Wieso, Arren?«
»Dort… auf Obehol, als Sie mich einmal wirklich brauchten, Sie waren verwundet und bedurften der Hilfe, habe ich nichts getan. Das Boot trieb Steuer los, und ich ließ es treiben. Sie litten Schmerzen und ich tat nichts, um sie zu lindern. Ich sah Land … ich sah Land, und ich habe nicht einmal versucht, das Boot zu wenden!«
»Sei ruhig, Junge!« gebot der Magier, und seine Stimme klang so bestimmt, daß Arren gehorchte. Dann sagte er: »Erzähl mir, was du während dieser Zeit gedacht hast.«
»Nichts, mein Gebieter — nichts! Ich dachte, daß alles vergeblich sei, daß es nutzlos wäre, irgend etwas zu tun. Ich dachte, daß Sie Ihre Zauberkünste verloren hätten — nein, daß Sie nie welche besessen, ja, daß Sie mich in eine Falle gelockt hätten.« Der Schweiß brach ihm aus, und er mußte sich zwingen, weiterzureden. »Ich hatte Angst vor Ihnen. Ich fürchtete den Tod. Ich habe ihn so gefürchtet, daß ich Sie nicht anschauen konnte, weil ich Angst hatte, daß Sie sterben könnten. Ich konnte an nichts anderes mehr denken, außer daß… daß es eine Möglichkeit gäbe, und ich nicht zu sterben brauchte, wenn ich den Ort finden würde. Aber die ganze Zeit lang wurde das Leben schwächer, wie wenn da eine große Wunde wäre, und das Blut floß heraus — eine Wunde, wie Sie sie hatten. Nur war sie überall. Und ich habe nichts, gar nichts getan, nur versucht, mich vor dem Grauen des Sterbens zu verbergen.«