Er hielt inne, denn es war fast unerträglich, laut die Wahrheit auszusprechen. Nicht Scham hielt ihn davor zurück, sondern Furcht, die gleiche Furcht. Jetzt wußte er, warum ihm dieses friedliche Leben auf den Flößen wie ein Traum, wie ein Leben nach dem Tode vorkam. Denn er wußte tief in seinem Herzen, daß es nichts Wirkliches gab, daß die Wirklichkeit ohne Leben, ohne Wärme, ohne Farbe und Ton war … Es gab keine Höhen, keine Tiefen. Das Spiel von Licht und Schatten, die Farben, die auf dem Meer lagen und in den Augen der Menschen zu sehen waren, sie waren weiter nichts als das: Illusionen — und dahinter gähnte ein Nichts.
Sie vergingen und nichts blieb zurück, nur Kälte und eine Welt ohne feste Formen. Sonst nichts.
Sperber schaute ihn an, doch Arrens Augen waren auf den Boden geheftet, er wich diesem Blick aus. Doch ganz unerwartet spürte er, wie sich tief in seinem Herzen etwas regte. Eine kleine Stimme, mutig und spöttisch; sie war arrogant und erbarmungslos, und sie sprach: »Du Feigling! Du Feigling! Willst du sogar das aufgeben?«
Da hob er den Blick, mit großer Willensanstrengung, und blickte in die Augen seines Gefährten.
Sperber ergriff seine Hand und hielt sie fest, so daß sie sich körperlich und mit ihren Augen berührten. Er sagte Arrens wahren Namen, den er noch nie zuvor ausgesprochen hatte: »Lebannen!« Und noch einmaclass="underline" »Lebannen, es ist, und du bist! Es gibt keine Sicherheit und kein Ende. Nur im Schweigen hört man das Wort, nur in der Dunkelheit sieht man die Sterne. Der Tanz wird getanzt, aber darunter ist es hohl, darunter liegt ein Abgrund.«
Arren hielt seine Hand fest und beugte seinen Kopf so tief, daß seine Stirn sich gegen Sperbers Hand preßte. »Ich habe Sie im Stich gelassen! « stöhnte er. »Ich werde wieder versagen, mir selbst gegenüber werde ich versagen. Ich bin nicht stark genug!«
»Du bist stark genug.« Die Stimme des Magiers war weich, doch unter der Weichheit war die gleiche Härte, die aus Arrens tiefstem Herzen, aus seiner Scham, aufgestiegen war und über ihn gespottet hatte. »Was du liebst, Arren, wirst du immer lieben. Was du unternimmst, wirst du vollenden. Du bist die Erfüllung der Hoffnung, auf dich kann man sich verlassen. Doch mit siebzehn Jahren ist man noch wenig geschützt vor der Verzweiflung. — Bedenke, Arren, wer den Tod verneint, der verneint das Leben!«
»Aber ich suchte den Tod — Ihren und meinen! « Arren hob den Kopf und starrte Sperber an. »Ich suchte ihn, wie Sopli, der ertrinken wollte…«
»Sopli hat den Tod nicht gesucht. Er wollte dem Tod und dem Leben entrinnen. Er suchte die Sicherheit: er versuchte der Furcht — der Furcht vor dem Tode zu entrinnen.«
»Aber es gibt… es gibt eine Möglichkeit. Jenseits des Todes ist ein Weg. Er führt zurück zum Leben. Zum Leben jenseits des Todes, zu einem Leben ohne Tod. Das — das suchen sie; Hase und Sopli, die Zauberer gewesen waren. Das suchen wir. Sie — Sie vor allem — müssen das wissen — müssen diesen Weg kennen.«
Der Magier hielt Arrens Hand noch fest umschlossen. »Ich weiß nichts davon«, sagte Sperber. »Gewiß, ich weiß, was sie glauben zu suchen. Aber ich weiß, daß es eine Lüge ist. Arren, hör mir gut zu! Du wirst sterben. Du wirst nicht ewig weiterleben. Kein Mensch, kein Wesen lebt ewig weiter. Auf dieser Erde gibt es kein ewiges Leben. Doch nur uns wurde offenbart, daß wir sterben müssen. Und das ist ein großes Geschenk: dadurch werden wir uns bewußt, denn wir wissen, daß wir das, was uns gegeben wurde, wieder hergeben, willig hergeben müssen. Und unser Selbst ist unser Himmel und unsere Hölle, es ist unser Menschsein. Es verändert sich, es verschwindet, wie eine Welle auf dem Meer verschwindet. Möchtest du, daß die Wellen und die Gezeiten zum Stillstand kommen, damit eine Welle, du, gerettet wirst? Möchtest du die Geschicklichkeit deiner Hände, die Tiefe deiner Gefühle, das Licht des Sonnenauf- und -Untergangs aufgeben, um eine Sicherheit — eine ewige Sicherheit zu erlangen? Das, und nichts anderes, versuchen sie auf Wathort und Lorbanery und an all den anderen Orten. Und das ist die Botschaft, die all die, die dazu in der Lage sind, gehört haben, und sie lautet: Wenn du das Leben verneinst, dann kannst du auch den Tod verneinen und ewig weiterleben! — Und diese Botschaft, Arren, die höre ich nicht, denn ich will sie nicht hören. Ich bin taub. Ich bin blind. Du bist mein Führer. Und du, in deiner Unschuld, in deiner UnWeisheit, in deiner Treue, du bist mein Führer, mein mutiger Führer — du bist das Kind, das ich vor mir her in die Dunkelheit sende. Deiner Furcht, deinem Schmerz, dem folge ich. Du dachtest, ich sei hart zu dir, Arren: du hast nicht geahnt, wie hart! Deine Liebe, Arren, ich gebrauche sie wie eine Kerze, eine brennende und sich selbst verzehrende Kerze, die mir zeigt, wo ich hingehen muß. Und wir müssen weitergehen. Wir müssen weitergehen. Wir müssen bis ans Ende gehen. Wir müssen dorthin, an den Ort, wo die See leer und trocken und die Freude verschwunden ist. Und vor dem Ort hast du, als Sterblicher, ein Grauen, und er zieht dich doch an.«
»Wo ist er?«
»Ich weiß es nicht.«
»Ich kann Sie nicht dorthin führen, aber ich werde mit Ihnen gehen.«
Der dunkle, unergründliche Blick des Magiers ruhte auf ihm.
»Doch wenn ich wieder versage und Sie preisgeben sollte …«
»Ich vertraue dir, Morreds Sohn.«
Beide schwiegen.
Über ihnen, vor dem blauen, südlichen Himmel, bewegten sich die hohen geschnitzten Idole leicht hin und her: teils Delphine, teils Seevögel, mit menschlichen Gesichtern und starren Augen aus Muscheln.
Sperber stand mit Anstrengung auf, denn er war noch lange nicht genesen von seiner Wunde. »Ich habe das Herumsitzen satt«, sagte er. »Ich werde faul und fett.« Er ging auf dem Floß auf und ab, und Arren gesellte sich ihm bei. Sie unterhielten sich, während sie gingen. Arren erzählte ihm, was er die Tage über getan hatte und wer seine Freunde unter dem Floßvolk waren. Sperbers Ruhelosigkeit war größer als seine Stärke, die ihn bald verließ. Er blieb bei einem Mädchen stehen, die hinter dem Tempel Nilgu auf ihrem Webrahmen wob, und bat sie, den Häuptling zu ihm zu rufen; dann ging er zurück in seine Hütte. Der Häuptling des Floßvolkes erschien bald und grüßte ihn höflich. Der Magier erwiderte seinen höflichen Gruß, und alle ließen sich auf dem gefleckten Seehundsfell der Hütte nieder.
»Ich habe mir das«, sagte der Häuptling mit würdevoller und ernster Stimme, »was Sie mir gesagt haben, durch den Kopf gehen lassen. Wie die Menschen in ihren eigenen Körpern vom Tod zurückkehren wollen, wie sie darüber die Verehrung ihrer Götter und ihre eigene Gesundheit vernachlässigen und den Verstand verlieren. Das ist ein großes Übel und sehr schlimm. Aber ich habe weiter überlegt: Was hat das mit uns zu tun? Wir haben nichts mit anderen Menschen, ihren Inseln und ihren Gebräuchen, mit ihren Taten und Untaten zu tun. Wir leben auf der See, und unser Leben gehört der See. Wir hoffen nicht darauf, es immer behalten zu können, aber wir wollen es voll leben und es nicht aufgeben. Bei uns gibt es keinen Wahnsinn. Wir kommen nie an Land, und die Landbewohner kommen nicht zu uns. Als ich jung war, redeten wir manchmal mit Menschen, die zur Langen Düne kamen, während wir dort Bäume fällten und unsere Winterunterkünfte zimmerten. Oft sahen wir Segel von Ohol und Welwai (so nannte er Obehol und Wellogy), die den grauen Walfischen im Herbst folgen. Oft folgten sie auch unseren Flößen, denn sie wußten sehr wohl, daß wir die Gründe kennen, wo sich die Großen des Meeres treffen. Doch das ist alles schon lange her, und mehr wissen wir nicht von den Landmenschen. Jetzt sehen wir sie nie mehr. Vielleicht sind sie alle wahnsinnig geworden und haben sich gegenseitig umgebracht. Vor zwei Jahren, als wir uns auf der Langen Düne aufhielten, sahen wir nördlich, gegen Welwai zu, Rauch aufsteigen, der von einem großen Brand herrühren mußte. Doch was hat das mit uns zu schaffen? Wir sind die Kinder der Hohen See! Wir bleiben der See treu!«