»Doch als ihr gesehen habt, wie das Boot eines Landmenschen auf dem Wasser trieb, seid ihr zu Hilfe gekommen«, sagte der Magier.
»Einige unter uns meinten, daß es nicht klug sei, das zu tun. Sie hätten das Boot bis ans Ende des Meeres treiben lassen«, antwortete der Häuptling mit seiner hohen Stimme, die ziemlich gleichgültig klang.
»Sie gehörten nicht dazu?«
»Nein. Ich sagte, wir werden ihnen helfen, obwohl es Landmenschen sind. Doch mit Ihren Unternehmungen wollen wir nichts zu tun haben. Wenn Wahnsinn unter den Landmenschen ausgebrochen ist, dann sollen sie auch damit fertig werden. Wir folgen den Großen. Wir können Ihnen in Ihrer Suche nicht helfen. So lange Sie bei uns bleiben wollen, sind Sie willkommen. Es ist nicht mehr lange bis zum Langtanz, dann werden wir uns nach Norden wenden, und gegen Ende des Sommers erreichen wir die Lange Düne. Wenn Sie hierbleiben und Ihre Wunde ausheilen wollen, so ist uns das recht. Doch wenn Sie Ihr Boot nehmen und davonsegeln wollen, so ist uns das auch recht.«
Der Magier dankte ihm, und der Häuptling, hager wie ein Reiher, erhob sich steif und ließ sie allein.
»Unschuld ist kein Bollwerk gegen das Böse«, sagte Sperber und lächelte resigniert. »Aber Unschuld birgt die Möglichkeit, Gutes zu tun. — Ich denke, wir werden noch eine Weile hierbleiben, bis ich mich von dieser Schwäche erholt habe.«
»Das ist ein weiser Entschluß«, sagte Arren. Sperbers körperliche Schwäche hatte ihn erschreckt, und er war tief beunruhigt. Er war entschlossen, den Mann vor seiner eigenen Energie und Ruhelosigkeit zu schützen und darauf zu bestehen, daß sie mit der Weiterfahrt warten, bis er zumindest frei von Schmerzen war.
Der Magier blickte ihn an, überrascht über das Kompliment.
»Die Leute hier sind freundlich«, fuhr Arren fort, ohne Sperbers Blick wahrzunehmen. »Sie scheinen nichts von dieser seelischen Krankheit an sich zu haben, die sie auf Hort und auf den anderen Inseln hatten. Vielleicht hätte es gar keine Insel gegeben, auf der sie uns geholfen und uns willkommen geheißen hätten, so wie es diese vergessenen Leute hier getan haben.«
»Du hast wahrscheinlich recht.«
»Und ihr Leben im Sommer ist wirklich schön …«
»Stimmt. Obgleich, das ganze Leben lang nur kalte Fischsuppe zu essen, nie einen Birnbaum blühen zu sehen, nie aus einem klaren Quell trinken zu können, wäre auf die Dauer für mich schwer zu ertragen!«
So kam es, daß Arren auf Sterns Floß zurückkehrte und tagsüber mit den anderen jungen Leuten schwamm, arbeitete und in der Sonne lag. In der Abendkühle ging er zu Sperber und unterhielt sich mit ihm, und des Nachts schlief er unter den Sternen. So reihten sich die Tage aneinander, und die Mittsommernacht und der Langtanz rückten immer näher, während die großen Flöße auf den mächtigen Strömungen des offenen Meeres nach Süden trieben.
ORM EMBAR
Während der ganzen Nacht, der kürzesten des Jahres, brannten Fackeln auf den Flößen, die in einem Riesenkreis unter dem mit Sternen dichtbesäten Himmel aneinandergereiht waren. Es sah aus, als läge ein flakkernder, feuriger Ring auf dem Wasser. Das Floßvolk tanzte, ohne Trommeln, ohne Flöten, ohne irgendwelche Begleitmusik, nur zum Rhythmus, den ihre nackten Füße auf die großen, schaukelnden Flöße trommelten, begleitet von ihren Sängern, deren hohe, klagende Stimmen über der Weite des Meeres verklangen. Kein Mond erhellte die Nacht, und die Gestalten der Tanzenden waren nur schwach im Licht der Sterne und Fackeln sichtbar. Ab und zu brach, blitzartig, ein Tänzer aus der Reihe und schnellte sich, wie ein fliegender Fisch, in die Luft zum nächsten Floß hinüber: hoch und weit sprangen sie, sich gegenseitig überbietend, und versuchten, alle Flöße zu berühren, auf allen ein wenig zu tanzen, und bei Tagesanbruch den ganzen Ring durchtanzt zu haben und wieder auf dem eigenen Floß gelandet zu sein.
Arren tanzte auch, denn der Langtanz wird auf jeder Insel des Inselreichs getanzt, nur der Gesang und der Rhythmus sind verschieden. Die Nachtstunden verstrichen, und viele Tänzer ließen sich ermüdet nieder, um zuzuschauen, manche nickten ein. Die Stimmen der Sänger klangen heiser vom unaufhörlichen Singen. Arren erreichte mit einer Gruppe hochspringender Jungen das Floß des Häuptlings und beschloß, hier anzuhalten, während die anderen weitertanzten und sprangen.
Sperber saß nahe dem Tempel beim Häuptling und seinen drei Frauen. Zwischen den geschnitzten Walfischen, den Türpfosten des Tempels, saß ein Sänger, dessen Stimme mit unverminderter Klarheit und Stärke die ganze Nacht hindurch erklungen war. Keine Müdigkeit war an ihm wahrzunehmen, er sang ohne abzusetzen und schlug den Takt mit der flachen Hand auf die Holzbalken des Floßes.
Wovon singt er?« fragte Arren, denn er konnte den Worten, die alle in die Länge gezogen wurden und am Ende in einem ihm unbekannten Triller endeten, nicht folgen.
»Er singt von den großen Walfischen und vom Albatros und von den Stürmen des Meeres … Hier kennt man unsere Helden- und Königslieder nicht. Von Erreth-Akbe haben sie noch nie gehört. Vorhin sang er von Segoy, wie er die Inseln aus dem Meer emporsteigen ließ, diese Kunde ist ihnen von unserem Mythenschatz verblieben. Aber alles andere handelt von der weiten See.«
Arren hörte dem Gesang aufmerksam zu, und er glaubte den schrillen Schrei des Delphins zu vernehmen, den der Sänger nachahmte und um den er sein Lied wob. Er sah Sperbers Profil gegen das Fackellicht, schwarz, wie aus Fels gemeißelt, er sah die Augen der Häuptlingsfrauen im Feuerschein glitzern und hörte, wie sie leise miteinander redeten, er fühlte, wie das Floß sich auf dem ruhigen Wasser senkte und hob, und unmerklich überkam ihn der Schlaf.
Er wachte ganz plötzlich auf: der Sänger war verstummt. Nicht nur der Sänger auf ihrem Floß, auch die anderen, auf den nahen und fernen Flößen, verstummten. Wie fernes Vogelgezwitscher, dünn und hoch, verloren sich ihre Stimmen und starben langsam, eine nach der anderen, ab.
Arren blickte über die Schulter. Der volle Mond hing tief im Westen zwischen den Sternen des sommerlichen Himmels.
Dann ließ er seinen Blick nach Süden schweifen, und er sah, hoch am Firmament, den gelblichen Gorbadon und seine acht Gefährten darunter, selbst der letzte war jetzt da: Die Rune des Endens brannte hell und klar über der dunklen See. Er wandte sich Sperber zu und sah, daß sein dunkles Gesicht auch den Sternen zugekehrt war.
»Warum verstummst du?« fragte der Häuptling den Sänger. »Der Tag ist noch nicht angebrochen, selbst die Morgenröte ist noch fern.«
Der Mann stammelte: »Ich weiß nicht.«
»Sing weiter! Der Langtanz ist noch nicht zu Ende.«
»Ich habe die Worte vergessen«, sagte der Sänger, und seine Stimme klang schrill und angsterfüllt. »Ich kann nicht mehr singen. Ich habe das Lied vergessen.«
»Dann sing ein anderes!«
»Es gibt keine Lieder mehr. Es ist zu Ende«, schluchzte der Sänger und beugte sich nach vorne, bis seine Stirn die Balken berührte. Der Häuptling starrte ihn sprachlos an.
Die Flöße schaukelten unter dem flackernden Licht der Fackeln. Die Stille des Meeres umgab das bißchen menschliche Leben, das sich hinaus auf die Weite des Ozeans gewagt hatte, und verschluckte es. Kein Tänzer rührte sich mehr.