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Das Bild wurde schwächer, bald war es verschwunden; nur die grelle Scheibe der Mittagssonne starrte ihnen aus dem Wasser entgegen.

»Ja, ja«, sagte Sperber, und sein Blick ruhte nachdenklich und ein wenig spöttisch auf Arren, »wenn ich jemals wieder zurückkehren soll, selbst du könntest mir dorthin nicht folgen.«

Vor ihnen lag Land. Niedrig und blau erhob es sich über dem Horizont.

Im Dunst des Nachmittags glich es einer Nebelbank. »Ist das Selidor?« fragte Arren, und sein Herz begann heftig zu pochen, doch der Magier antwortete: »Ich vermute, es ist Obb oder Jessetsch. Wir haben noch nicht einmal die Hälfte des Weges zurückgelegt, mein Junge! «

Es war Nacht, als sie durch die Meeresstraßen zwischen den beiden Inseln segelten. Sie sahen keine Lichter, doch starker Brandgeruch lag in der Luft, und der Rauch war stellenweise so dick, daß ihre Lungen beim Atmen zu schmerzen begannen. Als es hell wurde und sie zurückblickten, sahen sie, daß die östliche Insel, Jessetsch, von der Küste landeinwärts, so weit der Blick reichte, schwarz und verbrannt aussah, ein blauer, schwerer Dunst lag darüber.

»Man hat die Ernte verbrannt«, sagte Arren.

»Stimmt. Und die Dörfer. Den Rauch habe ich schon einmal gerochen.«

»Sind das hier Barbaren im Westen?«

Sperber schüttelte verneinend seinen Kopf. »Bauern und Städter.«

Arren starrte auf das schwarze, zerstörte Land, auf die verkohlten Stümpfe der Obstbäume, die sich gegen den Himmel reckten, und sein Gesicht wurde hart. »Was haben ihnen denn die Bäume getan?« sagte er. »Muß man seinen Haß am Gras auslassen? Menschen, die das Land verwüsten, weil sie sich untereinander streiten, sind Barbaren.«

»Es fehlt ihnen die Führung«, sagte Sperber, »es fehlt ihnen der König; und all die herrschenden und zauberkundigen Menschen haben sich abgesondert und in sich selbst zurückgezogen; die suchen die Tür, die vom Tod zurückführt. So ist es im Süden, und so wird es vermutlich auch hier sein.«

»Und ein Mann kann das bewerkstelligen — der, von dem der Drachen sprach? Das scheint doch kaum möglich.«

»Warum nicht? Wenn es einen König aller Inseln gäbe, wäre das ja auch nur ein Mann, und er würde regieren. Ein Mann kann regieren, und genauso leicht kann ein Mann auch zerstören: sei ein König oder ein Antikönig.«

In seiner Stimme lag wieder dieser leicht spöttische, herausfordernde Ton, der Arrens Blut aufwallen ließ.

»Ein König hat Diener — Soldaten, Beamte, Gesandte. Er regiert durch die, die in seinem Dienst stehen. Wo sind denn die Diener dieses … dieses Antikönigs?«

»In unserem Herzen, mein Junge, in unserem Herzen! Der Verräter, das ist das eigene Ich, das schreit: Ich will leben, laßt die Welt verbrennen, wenn nur ich leben kann! Das infame, kleine Stimmchen, das in uns nistet, im Dunkel unserer Seele wie der Wurm im Apfel. Und es spricht zu jedem von uns. Doch nur wenige können es verstehen: die Zauberer und die Hexenmeister, die Sänger, die Künstler und die Helden, diejenigen, die versuchen, sich selbst zu finden und zu bejahen, die versuchen, sich zu verwirklichen. Und das ist etwas ganz Großes und Seltenes. Und sich in alle Ewigkeit verwirklichen zu können, ist das denn nicht noch viel besser?«

Arren blickte Sperber direkt in die Augen. »Ihrer Ansicht nach ist es nicht besser. Aber sagen Sie mir, warum. Als ich diese Reise begann, war ich ein Kind, ein Kind, das nicht an den Tod glaubte. Sie glauben, daß ich noch immer ein Kind bin, aber ich habe inzwischen gelernt, nicht viel vielleicht, aber doch etwas. Ich habe gelernt, daß es einen Tod gibt, und daß ich sterben muß. Aber ich habe nicht gelernt, daß ich dieses Wissen willkommen heißen muß, daß ich Ihren oder meinen Tod begrüßen soll. Wenn ich das Leben liebe, ist es dann nicht natürlich, daß ich seinem Ende mit Widerwillen entgegensehe? Warum soll ich mir keine Unsterblichkeit wünschen?«

Arrens Fechtmeister in Berila war ungefähr sechzig Jahre alt gewesen, ein kleiner, glatzköpfiger und kalter Mann. Arren hatte ihn jahrelang nicht ausstehen können, obgleich er wußte, daß er ein ausgezeichneter Fechtmeister war. Doch eines Tages, während einer Übung, hatte er den Meister in einer ungeschützten Stellung überrascht und fast entwaffnet, und der ungläubige, ungewohnte Ausdruck der Freude auf den strengen Züge n, die Überraschung, das Staunen, endlich einen Ebenbürtigen, endlich einen Partner gefunden zu haben — nie hatte er diesen Ausdruck vergessen können. Und von diesem Tag an hatte ihn der alte Mann erbarmungslos herangenommen und immer lag das gleiche Lächeln auf dem Gesicht des alten Manns und hellte sich auf, je mehr Arren auf ihn eindrang. Und jetzt lag es auf Sperbers Gesicht, leuchtend wie Stahl im Licht der Sonne.

»Warum sollst du dir keine Unsterblichkeit wünschen? Wie kannst du es vermeiden? Jede Seele strebt danach, und ihre Größe liegt in der Stärke dieses Strebens. — Doch hab acht, du gehörst zu denen, deren Wunsch in Erfüllung gehen kann.«

»Und dann?«

»Dann könnte es geschehen, daß ein falscher König an die Macht kommt, und die Kunst der Menschen ist vergessen, die Sänger sind stumm, und die Augen blind. Und hier! Schau dich um! Sieh dir die Verheerung, das Elend des Landes, die Wunde, die wir heilen wollen, an. Zwei sind es, Arren, die ein Ganzes formen: die Welt und der Schatten, die Helligkeit und das Dunkle. Das sind die beiden Schalen der Waage. Leben trägt den Keim des Todes, der Tod den Keim des Lebens in sich. Die beiden Pole sind sich entgegengesetzt und ziehen sich daher an, sie bringen sich gegenseitig hervor und werden ewig wiedergeboren. Und alles folgt ihnen, die Blüte des Apfelbaums, das Licht der Sterne. Im Leben ist der Tod beschlossen und im Tod die Wiedergeburt. Ein Leben ohne Tod, wie sähe das aus? Ein sich nie veränderndes, ewig dauerndes Leben? — Ist das nicht ein schrecklicher Tod — ein Tod, dem keine Wiedergeburt folgt?«

»Wenn soviel davon abhängt, wenn eines Menschen Leben das Gleichgewicht des Ganzen stören kann, dann ist es doch sicherlich … ich meine, dann würde doch nicht zugelassen werden …« Er stockte, verwirrt.

»Wer läßt zu? Wer verbietet?«

»Ich weiß nicht.«

»Ich auch nicht. Aber ich weiß, wieviel Böses ein Mensch anrichten kann. Ich weiß es nur zu gut, denn ich habe es selbst getan. Ich habe die gleiche böse Tat im Taumel meines Stolzes begangen. Ich habe die Tür zwischen den Welten geöffnet, nur einen Spalt weit, einen ganz winzigen Spalt, nur um zu zeigen, daß ich stärker als der Tod selbst sei… Ich war jung und war dem Tod — wie du — noch nie begegnet… Es bedurfte der ganzen Macht des Erzmagiers Nemmerle, seiner ganzen Kunst und seines Lebens, um die Tür wieder zu schließen. Du siehst die Narben, die diese Nacht auf meinem Gesicht hinterlassen hat, doch sein Leben hat es gekostet. O ja, die Tür zwischen der Helligkeit und dem Dunkel kann geöffnet werden, Arren! Es bedarf der Stärke, doch es kann vollbracht werden. Doch sie wieder zu schließen, das, Arren, ist eine ganz andere Sache.«

»Aber das, von dem Sie sprechen, das ist doch gewißlich ganz verschieden von dem hier…«

»Warum? Weil ich ein guter Mensch bin?« Die Stimme war wieder hart und kalt, das Auge des Falken blickte ihn durchdringend an. »Was heißt das, ein guter Mensch zu sein, Arren? Ist der gut, der nie etwas Böses tun würde, der nie die Tür zur Finsternis aufmachen würde, der kein Dunkel in sich trägt? Denk nach und schau etwas tiefer, Junge! Was du lernst, wirst du dort gebrauchen können, wohin wir gehen müssen. Schau in dich selbst!

Hast du nicht eine Stimme vernommen, die Komm! gesagt hat? Bist du ihr nicht gefolgt?«

»Doch. Ich — ich habe es nicht vergessen. Aber ich dachte … ich dachte, daß es … daß es seine Stimme war.«

»Gewiß, es war seine Stimme, aber es war auch deine Stimme. Wie anders hätte er über die Meere zu dir sprechen können, als in deiner eigenen Stimme? Wie kommt es, daß er die, die gelernt haben zu hören — die Magier, die Künstler, die Suchenden — ruft, und daß die seiner Stimme folgen? Wie kommt es, daß er mich nicht zu sich ruft? Weil er weiß, daß ich nicht hören will. Ich will diese Stimme nicht vernehmen. Du, Arren, du bist, wie ich, zur Macht geboren, zur Macht über andere Menschen, über andere Seelen. Ist das nicht das gleiche wie Macht über Leben und Tod? Du bist noch jung, du stehst an der Schwelle der Möglichkeiten, und im Land der Schatten und Träume vernimmst du die Stimme, die zu dir spricht: Komm! Aber ich, ich bin alt, ich habe getan, was ich tun mußte, ich stehe im Licht des Tages und sehe meinem eigenen Tod entgegen, dem Ende aller Möglichkeiten. Ich weiß, daß es nur eine Macht gibt, die es wert ist zu besitzen: die Macht, nicht zu nehmen, sondern zu empfangen.«