Jessetsch lag schon weit hinter ihnen, ein blauer Strich am Horizont, ein Fleck.
»Dann bin ich sein Diener«, sagte Arren.
»Das bist du. Und ich bin deiner.«
»Aber wer ist es denn? Was ist es?«
»Ich glaube, es ist ein Mensch — so wie du und ich.«
»Dieser Mann, von dem Sie einst sprachen — der Zauberer von Havnor, der die Toten heraufbeschworen hat, ist es der?«
»Das kann gut sein. Er besaß große Macht, und sie war ausschließlich darauf gerichtet, dem Tod zu entgehen. Und er kannte die Großen Formeln, die in der Zauberkunde von Paln enthalten sind. Ich war jung und dumm, als ich in diesem Buch las und eine der Formeln benutzte. Ich habe mir selbst Unheil damit zugezogen. Sieh dir die Narben an. Doch wenn ein alter und mächtiger Mann sie benutzt und keine Rücksicht auf die Folgen nimmt, dann kann er uns alle ins Verderben stürzen.«
»Wurde Ihnen nicht gesagt, daß dieser Mann tot sei?«
»Doch«, sagte Sperber, »das wurde mir gesagt.«
Sie sprachen nicht mehr weiter darüber.
In dieser Nacht war das Meer wie von einem Feuer durchleuchtet. Die scharfen Wellen, vom Bug der Weitblick zurückgeworfen, und die Bewegungen jedes Fisches unter der Oberfläche des Wassers waren klar umrissen und lebendig im Licht. Arrens Arm lag auf der Ruderbank, und er ließ seinen Kopf darauf ruhen, während er die silbernen Wirbel und Strudel betrachtete. Er tauchte seine Hand in das Wasser und hob sie hoch, und ein sanftes Licht glitt von seinen Fingern herab. »Schauen Sie her«, sagte er, »ich bin auch ein Zauberer!«
»Diese Gabe hast du nicht«, sagte sein Gefährte.
»Und ohne sie«, erwiderte Arren und blickte in das ruhelose Glitzern der Wellen, »bin ich ja wirklich keine große Hilfe, wenn wir auf unseren Feind treffen.«
Denn er hatte heimlich gehofft — schon von Anfang an —, daß der Grund, warum der Erzmagier ihn und keinen anderen auf diese Reise mitgenommen hatte, darin lag, daß eine Kraft in ihm schlummerte, die von seinem Vorfahren Morred auf ihn gekommen war und die sich in der äußersten Not in der dunkelsten Stunde offenbaren würde: dann würde er sich selbst und seinen Gebieter und die ganze Welt von diesem Feind befreien. Aber in letzter Zeit, wenn er an diese Hoffnung dachte, so schien sie ihm in weiter Ferne zu liegen; und es stieg in ihm eine Erinnerung an die Tage seiner Kindheit auf, als er den brennenden Wunsch hatte, die Krone seines Vaters aufzuprobieren, und als es ihm untersagt wurde, hatte er geweint. Die Hoffnung war genauso kindisch, genauso unreif. Er besaß keine Macht, taugte nicht zur Magie. Er würde diese Gabe auch nie besitzen.
Wahrscheinlich war freilich, daß irgendwann der Zeitpunkt kommen würde, da er die Krone seines Vaters aufsetzen und als Prinz von Enlad regieren mußte. Doch das schien ihm jetzt nichts Besonderes mehr zu sein, seine Heimat kam ihm klein vor und lag in weiter Ferne. Das war keine Treulosigkeit. Seine Treue war sogar gewachsen, nur war sie jetzt auf etwas viel Größeres, auf eine viel umfassendere Hoffnung gerichtet. Er hatte seine eigene Schwäche erkannt und hatte gelernt, an ihr seine Stärke zu messen. Jetzt wußte er, daß er stark war. Doch was nutzte ihm diese Stärke, wenn er keine magische Gaben besaß, wenn er seinem Gebieter nichts anbieten konnte als seine Dienste und seine unverbrüchliche Liebe? Dort, wohin sie gehen mußten, würde das dort genügen?
Sperber hatte gesagt: »Um das Licht einer Kerze zu sehen, muß man sie an einen dunklen Ort tragen.« Damit versuchte sich Arren zu trösten, aber er fand den Gedanken nicht sehr trostreich. Als sie am anderen Morgen erwachten, waren Luft und Wasser grau. Über dem Mast hellte sich der Himmel zu der sanften Bläue eines Opals auf, denn der Nebel hing tief. Den Männern aus dem Norden, zu denen Arren von Enlad und Sperber von Gont gehörten, war der Nebel vertraut; sie hießen ihn willkommen wie einen alten Freund. Sachte umhüllte er das Boot, so daß sie nicht weit blicken konnten, und es kam ihnen vor, als befänden sie sich in einem vertrauten Raum, nach Wochen in einer leeren, erbarmungslosen Helle in einem unablässig blasenden Wind. Sie kehrten in ihr gewohntes Klima zurück und befanden sich jetzt ungefähr auf der Höhe von Rok.
Etwa sechshundert Meilen weit Östlich von der nebligen See, auf der die Weitblick segelte, schien die Sonne auf die Blätter der Bäume im Immanenten Hain, auf den grünen Gipfeln des Rokkogels und auf das spitze Schieferdach des Großhauses.
In einem Zimmer im Südturm, dem Arbeitsraum eines Magiers, in dem sich Retorten und Destillierkolben und dickbauchige Flaschen, teils mit geradem, teils mit schiefem Hals befanden, in dem stabile Öfen und winzige Heizlämpchen, Zangen, Scheren, Blasebälge, Ständer, Rohre, eine Unzahl von Schachteln, Reagenzgläsern und verpfropften Flaschen, teils in Hardisch oder geheimnisvollen Runen markiert, herumlagen und -standen, in dem es alles gab, was zur Alchemie, Glasbläserei, Metallschmelze und zur Kunst des Heilens gehörte, in diesem Raum, zwischen den mit allem Möglichen angehäuften Tischen und Bänken, standen der Meister der Verwandlungen und der Meister des Gebietens von Rok.
Der Meister der Verwandlungen hielt einen, wie ein ungeschliffener Diamant aussehenden Edelstein in seinen Händen. Es war ein Felskristall, der ganz tief im Innern amethystfarben und rosa schimmerte, doch sonst so klar wie Wasser war. Doch wenn das Auge sich in dieser klaren Tiefe verlor, so stieß es auf eine Trübung, die weder Widerspiegelung noch Bild der sie umgebenden Wirklichkeit war, sondern nur aus Flächen und Tiefen bestand, die immer weiter in eine Traumwelt hineinführten, die das Auge verbannt hielt. Dies war der Stein von Scheließ. Lange war er Teil des Schatzes der Prinzen von Weg gewesen, manchmal war ihm nicht mehr Bedeutung als jedem anderen Schmuckstück zugewiesen worden, manchmal hatte er als Schlafmittel gedient, doch manchmal erfüllte er einen grausamen Dienst: der Unerfahrene, der zu lange in die Tiefe des Kristalls blickte, wurde wahnsinnig. Der Erzmagier Genscher von Weg hatte, als er nach Rok kam, den Kristall mitgebracht, denn in den Händen eines Magiers enthüllte der Stein die Wahrheit.
Doch die Wahrheit ist verschieden von Mensch zu Mensch.
Und so beschrieb der Meister der Verwandlungen, der den Stein in seinen Händen hielt und durch die ungleichmäßig geprägte Oberfläche in die endlose, schimmernde, zart getönte Tiefe blickte, laut das Bild, das er sah: »Ich sehe die Erde vor mir liegen, so als ob ich auf dem Berge Onn im Mittelpunkt der Welt stünde, und mein Auge erschaut alles, was mir zu Füßen liegt, selbst die fernste Insel im fernsten B ereich und was jenseits liegt. Alles ist deutlich. Ich sehe Schiffe auf den Meeresstraßen von Ilien und die Herdfeuer auf Torheven und das Dach des Turmes, in dem wir uns befinden. Doch hinter Rok ist alles leer. Im Süden — nichts, im Westen — nichts, Wathort ist nicht dort, wo es sein soll, und auch die ändern Inseln im Westen fehlen, selbst Pendor, die nächstliegende, ist nicht sichtbar. Und wo ist Osskil und Ebosskil? Enlad ist vom Nebel verdeckt, ein schmutziges Grau liegt wie eine Spinnwebe auf der Insel. Immer mehr Inseln fehlen, und nichts ist auf dem Meer, so muß es ausgesehen haben vor der Schöpfung…«, seine Stimme brach, als er das letzte Wort aussprach, er mußte sich zwingen, es über seine Lippen zu bringen.