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Er legte den Stein vorsichtig auf den Ständer aus Elfenbein und trat zurück. Sein gütiges Gesicht sah erschöpft aus. Er sagte: »Sagen Sie mir, was Sie sehen!«

Der Meister des Gebietens hob den Stein auf und hielt ihn in seinen Händen. Er drehte ihn langsam herum, als suche er auf der unebenen Oberfläche den Eingang zu einer Vision. Lange drehte er ihn hin und her, und sein Gesicht war angespannt. Endlich legte er ihn zurück und sagte: »Verwandler, ich sehe wenig. Fragmente, Fetzen, nichts, was sich zu einem Ganzen schließt.«

Der grauhaarige Meister ballte die Hände zu Fäusten: »Ist das nicht schon an sich erschreckend?«

»Wieso?«

»Sind Ihre Augen oft blind?« rief der Verwandler, und Zorn lag in seiner Stimme. »Sehen Sie nicht, daß sich…«, und er stammelte ein paarmal, bevor er weiterreden konnte, »sehen Sie nicht, daß sich eine Hand über Ihre Augen gelegt hat, so wie sich eine Hand auf meinen Mund gelegt hat?«

Der Meister des Gebietens sagte: »Sie sind überarbeitet, Meister.«

»Gebieten Sie dem Wesen des Steines, zu erscheinen!« sagte der Meister der Verwandlungen, nachdem er sich gesammelt hatte, doch seine Stimme klang erstickt.

»Warum?«

»Warum? Weil ich Sie darum bitte.«

»Hören Sie auf, Meister! Wollen Sie mich etwa herausfordern — wie Knaben vor der Höhle des Bären? Sind wir denn Kinder?«

»Ja! Vor dem, was ich im Stein von Scheließ sehe, bin ich ein Kind — ein furchtsames Kind. Gebieten Sie dem Wesen des Steines. Muß ich Sie anflehen?«

»Nein«, sagte der große Meister, aber seine Stirn war gefurcht, und er wandte sich von dem älteren Mann ab. Dann streckte er die Arme weit aus in der Großen Geste, mit der die Formeln seiner Kunst beginnen; er hob den Kopf und sprach die Worte der Invokation. Während er sprach, begann ein Licht im Stein zu leuchten. Das Zimmer verdunkelte sich, Schatten drängten sich näher. Als die Schatten tief waren und der Stein ganz hell, legte er die Hände zusammen, hob den Stein vor das Gesicht und blickte hinein in das leuchtende Kristall.

Er schwieg eine Weile, dann begann er zu reden: »Ich sehe die Brunnen von Scheließ«, sagte er leise, »die Becken, die Schalen, die Wasserspiele, die silbernen Vorhänge vor den Spalten, wo Farne im Moos wachsen; ich sehe den gewellten Sand, über den die plätschernden Wasser sich ergießen, das Wasser, das aus der tiefen Erde dringt, das Geheimnis, die Unschuld des Ursprungs, die Quellen …«Er verstummte und blieb lange stehen, ohne sich zu rühren; sein Gesicht war bleich, es sah silbern aus im Schein des Kristalls. Dann schrie er wortlos auf, und, den Kristall achtlos fallen lassend, stürzte er auf die Knie und barg das Gesicht in den Händen.

Die Schatten waren verschwunden. Das Sonnenlicht strömte in den mit Geräten angefüllten Raum. Der große Bergkristall, der zu Boden gepoltert war, lag unbeschädigt im Staub und Abfall unter einem Tisch.

Der Meister des Gebietens streckte die Hand suchend aus, wie ein Kind griff er nach der Hand des ändern. Er atmete schwer. Endlich stand er auf und lehnte sich ein wenig an den Meister der Verwandlungen. Mit noch zitternden Lippen versuchte er zu lächeln: »Meister, vor Ihren Herausforderungen muß man sich hüten!«

»Was haben Sie gesehen, Thorion?«

»Ich habe die Brunnen gesehen. Ich habe gesehen, wie sie versunken sind, und wie die Flüsse ausgetrocknet sind. Ich habe gesehen, wie die Lippen der Quellränder sich geöffnet haben, und darunter war alles schwarz und trocken. Sie haben das Meer vor der Schöpfung gesehen, ich habe gesehen, was danach — nach dem Ende kommt.« Seine Lippen waren trocken. »Ich wünschte, der Erzmagier wäre hier.«

»Ich wünschte, wir könnten jetzt bei ihm sein.«

»Wo? Niemand kann ihn jetzt finden.« Der Meister des Gebietens blickte auf und schaute durch das Fenster in einen blauen, heiteren Himmel. »Kein Senden, kein Gebieten kann ihn jetzt erreichen. Er ist dort, wo Sie das Meer gesehen haben, auf dem sich nichts befand. Er kommt an den Ort, wo die Quellen versiegen. Er ist dort, wo uns unsere Künste nichts helfen … Doch vielleicht gibt es selbst jetzt noch Formeln, die ihn erreichen könnten, vielleicht einige aus der Zauber künde von Paln.«

»Das sind doch Formeln, die Tote wieder ins Leben rufen.«

»Und manche bringen die Lebenden ins Reich der Toten.«

»Sie glauben nicht, daß er tot ist?«

»Ich glaube, er geht dem Tod entgegen und wird von ihm angezogen. Wir alle werden davon angezogen. Unsere Macht verläßt uns, unsere Stärke, unsere Hoffnung, unser Glück flieht uns. Die Quellen versiegen.«

Der Meister der Verwandlungen blickte ihn sorgenvoll an. »Versuchen Sie nicht, nach ihm zu senden, Thorion«, sagte er schließlich. »Er wußte, was er suchte, lange bevor wir es wußten. Ihm ist die Welt wie der Kristall von Scheließ: er schaut und sieht, was getan werden muß … Wir können ihm nicht helfen. Die Großen Formeln sind alle gefährdet, und besonders die, die in der Kunde, die Sie erwähnt haben, enthalten sind. Wir müssen hier standhalten und uns um Rok kümmern. Wir müssen die Namen bewahren.«

»Gewiß«, sagte der Meister des Gebietens, »doch ich muß gehen und darüber nachdenken.« Er verließ das Turmzimmer, etwas steif ausschreitend, und trug seinen dunklen, edel geformten Kopf hoch.

Am nächsten Morgen suchte ihn der Meister der Verwandlungen auf. Als er keine Antwort auf sein Klopfen vernahm, öffnete er die Tür und fand ihn ausgestreckt auf dem Steinboden liegend, so als wäre er von einem schweren Wurf zurückgeschleudert worden. Seine Arme waren weit ausgestreckt, wie in einer Invokationsgeste, doch seine Hände waren kalt und seine Augen blicklos. Obwohl der Verwandler, neben ihm kniend, ihn mit der Macht des Magiers zurückrief, indem der seinen Namen Thorion dreimal wiederholte, bewegte er sich nicht. Er war nicht tot, aber nur noch ein bißchen Leben war in ihm, gerade genug, um sein Herz schlagen zu lassen und etwas Luft in seine Lungen zu bringen. Der Meister des Verwandeins griff nach seinen Händen und hielt sie fest, dann flüsterte er: »Oh, Thorion, ich habe dich gezwungen, in den Kristall zu blicken. Das ist meine Schuld!« Dann stand er hastig auf und ging hinaus in den Flur und sagte zu jedem, den er traf, Meister und Schüler: »Der Feind ist in unserer Mitte, in das gutgeschützte Rok ist er gedrungen und hat unsere Macht an der Wurzel angegriffen.« Sonst ein sanfter Mann, sah er jetzt so kalt und fremd aus, daß diejenigen, die ihn sahen, Furcht vor ihm hatten. »Schaut euch den Meister des Gebietens an!« sagte er. »Wer wird ihn zurückrufen können, wenn er, der Meister dieser Kunst, von uns gegangen ist?«

Er ging auf sein Zimmer, und alle traten zurück, um ihn vorbeizulassen.

Man ließ den Meister der Heilkunde kommen. Er o rdnete an, daß Thorion zu Bett gelegt und warm zugedeckt werde, aber er braute keinen Kräutertee und sang keinen der Gesänge, die einem kranken Körper oder einem gestörten Geist halfen.

Einer seiner Schüler war bei ihm, ein junger Bursche, der noch nicht den Zaubergrad erworben hatte, aber in der Heilkunde hochbegabt war. Er fragte: »Meister, kann man denn nichts für ihn tun?«

»Nicht auf dieser Seite der Mauer«, sagte der Meister. Dann, sich besinnend, zu wem er sprach, fügte er hinzu: »Er ist nicht krank, mein Junge, doch selbst wenn er ein Fieber oder eine Krankheit hätte, ich weiß nicht, ob unsere Kunst ihm groß helfen könnte. Mir scheint es, als ob unsere Krauter in letzter Zeit an Würze verloren hätten, und obwohl ich die Worte unserer Formeln wie eh und je spreche, so kommt mir doch vor, als wirkten sie nicht mehr so stark.«

»So etwas ähnliches hat Meister Sänger gestern gesagt. Er hat mitten in dem Lied, das er uns gerade beigebracht hat, aufgehört. ›Ich weiß nicht mehr, was das Lied bedeutet‹, hat er verstört gemurmelt und ist dann aus dem Zimmer gegangen. Einige der Jungen haben gelacht, aber mir warʹs nicht danach, mir warʹs, als würde der Boden unter mir versinken.«