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Arren sah seinen Gefährten in dem schmalen Bug stehen und zu der riesigen Kreatur sprechen, die über ihnen schwebte und den halben Himmel bedeckte. Er jauchzte innerlich auf und Stolz durchflutete ihn bei diesem Anblick; er sah, wie schwach, wie gering und wie schrecklich zugleich ein Mensch sein kann. Denn der Drache hätte mit einem Schlag seiner gekrümmten Klaue den Kopf des Mannes von den Schultern reißen können, er hätte das Boot zermalmen und versenken können wie ein Stein ein schwimmendes Blatt versenkt — wenn es nur auf die Größe ankäme. Doch Sperber war so gefährlich wie Orm Embar, und der Drache wußte das.

Der Magier wandte den Kopf: »Lebannen«, sagte er, und der Junge stand auf und kam nach vorne, obgleich er überhaupt kein Verlangen verspürte, sich diesem fünf Meter langen Rachen und den schmalen, gelbgrünen Augen mit den geschlitzten Pupillen zu nähern, die von oben auf ihn herabbrannten.

Sperber sagte kein Wort zu ihm, doch er legte seine Hand auf Arrens Schulter und sprach wieder kurz zu dem Drachen.

»Lebannen«, ließ sich die mächtige Stimme vernehmen, »Agni Lebannen!«

Er blickte nach oben, doch ein leichter Druck von Sperbers Hand erinnerte ihn daran, dem Blick des Drachen nicht zu begegnen.

Er konnte nicht in der Ursprache reden, aber er war nicht stumm und nicht dumm: »Ich begrüße Sie, Orm Embar, Fürst über alle Drachen«, sagte er mit klarer Stimme, wie ein Prinz, der einen Ebenbürtigen begrüßt.

Danach war alles still, nur Arrens Herz schlug laut und heftig. Doch Sperber, der neben ihm stand, lächelte.

Dann hob der Drache wieder an zu sprechen, und Sperber antwortete; Arren kam es wie eine Ewigkeit vor. Doch endlich, ganz plötzlich, war alles vorüber. Der Drache sprang mit einem Schlag seiner Schwingen so kraftvoll in die Höhe, daß er das Boot fast zum Kentern brachte; dann flog er davon.

Arren sah, daß die Sonne dem Untergang nicht viel näher war als zuvor. Nur wenig Zeit war verstrichen, doch das Gesicht des Magiers war aschgrau und schweißbedeckt, und seine Augen glitzerten, als er sich Arren zuwandte. Er setzte sich auf die Ruderbank.

»Du hast dich gut gehalten, mein Junge«, sagte er heiser. »Es ist nicht leicht — mit einem Drachen zu reden.«

Arren holte etwas zu Essen heraus, denn sie hatten den ganzen Tag noch keinen Bissen zu sich genommen, und der Magier redete nicht mehr, bis er gegessen und getrunken hatte. Als sie fertig waren, stand die Sonne schon tief am Himmel, obwohl in diesen nördlichen Breiten, wenn die Mittsommernacht noch nicht allzu lange vorbei ist, die Nächte spät und langsam kommen.

»Na«, sagte er endlich, »Orm Embar hat mir ja, wenn man in Betracht zieht, daß es von ihm kommt, ziemlich viel gesagt. Er sagte, daß der, den wir suchen, auf Selidor ist und doch nicht dort ist … Einem Drachen fällt es schwer, sich klar auszudrücken. Ihre Gedankengänge sind komplex. Und selbst wenn einer von ihnen einem Menschen die Wahrheit sagen wollte, was selten vorkommt, dann weiß er immer noch nicht, was der Mensch als Wahrheit betrachtet. Deswegen habe ich ihn gefragt: ›So wie dein Vater Orm sich auf Selidor befindet?‹ Denn wie du ja weißt, Orm und Erreth-Akbe sind dort im Kampf gefallen. Und er antwortete: ›Ja und nein. Du wirst ihn auf Selidor, doch nicht auf Selidor finden! ‹« Sperber hielt inne und grübelte eine Weile über die Worte nach, während er an einer Brotkruste kaute. »Vielleicht wollte er damit sagen, daß der Mensch, den ich suche, nicht auf Selidor ist, doch ich muß nach Selidor, um zu ihm zu gelangen. Vielleicht… Dann habe ich ihn über die anderen Drachen ausgefragt. Er sagte, daß dieser Mensch sich unter sie gewagt habe, denn er habe keine Furcht vor ihnen, denn wenn er getötet würde, dann kehrte er in seiner anderen Gestalt lebendig wieder zurück. Daher fürchten sie ihn als ein Wesen, das außerhalb der Natur steht, das unnatürlich ist. Ihre Furcht verleiht seiner Magie mehr Kraft über sie, und er nahm ihnen die Ur—, die Schöpfungssprache weg und überließ sie ihren wilden Instinkten. Sie fressen sich gegenseitig auf, nehmen sich das Leben, indem sie sich ins Meer stürzen — ein abscheulicher Tod für die Feuerechsen, die Tiere des Windes und des Feuers. Dann habe ich gefragt: ›Und wo ist Kalessin, dein Herr?‹ Und darauf hat er nur gesagt: ›Im Western, und das kann bedeuten, daß Kalessin in andere Länder geflogen ist, die weiter entfernt liegen, als je ein Schiff gesegelt ist, wenn man den Drachen glauben kann; es kann aber auch etwas anderes bedeuten. Dann hörte ich auf, Fragen zu stellen, und er fragte mich: ›Ich flog über Kaltuel, als ich vom Norden zurückkehrte und über die Tore Torins. Auf Kaltuel sah ich, wie Dorfbewohner ein Kind auf einem Altar opferten, und auf Ingat sah ich, wie ein Zauberer von den Bürgern der Stadt gesteinigt wurde. Werden sie das Kind verzehren, was meinst du, Ged? Wird der Zauberer vom Tode zurückkehren und Steine auf die Städter werfen?‹ Ich dachte zuerst, daß er mich ausspotte, doch dann merkte ich, daß es ihm ernst war. Er fuhrt fort: ›Alles ist sinnlos geworden. Die Welt hat einen Sprung bekommen, die See rinnt davon, das Licht entflieht. Wir bleiben zurück im trockenen Land. Es wird keine Sprache, keinen Tod mehr geben.‹ Und dann verstand ich endlich, was er mir zu sagen hatte.«

Arren verstand es nicht und war darüber hinaus tief beunruhigt. Denn Sperber, als er die Worte des Drachen wiederholte, hatte seinen wahren Namen genannt. Dies rief in Arren die unbehagliche Erinnerung an die Frau auf Lorbanery wach, die aufgeschrien hatte: »Mein Name ist Akaren!« Wenn die Zauberkräfte, wenn die Musik, die Sprache und das Vertrauen schwächer wurden und langsam abstarben, wenn diese irrationale Furcht sie überkam, die von den Drachen Besitz ergriffen hatte, und sie dazu trieb, sich gegenseitig zu zerstören, wenn das eintrat, konnte sein Gebieter dann noch widerstehen? War er stark genug dazu?

Er sah nicht stark aus, wie er so dasaß, vornübergebeugt über sein Mahl aus Brot und geräuchertem Fisch, mit ergrautem, von Feuer angesengtem Haar, mit seinen ausdrucksvollen, schmalen Händen und seinem müden Gesicht. Doch der Drache hatte ihn gefürchtet. »Was liegt dir auf dem Herzen, Junge?« Es gab keinen Ausweg. Er mußte die Wahrheit sagen. »Mein Gebieter«, sagte er, »Sie haben Ihren wahren Namen ausgesprochen.«

»O ja, stimmt. Ich habe vergessen, daß ich das nicht früher getan habe. Du mußt meinen wahren Namen wissen, wenn wir dorthin kommen, wo wir hingehen müssen.« Er blickte, noch immer kauend, auf und sah Arren an. »Hast du geglaubt, daß ich senil geworden bin und herumlaufe und meinen Namen vor mich hinschwätze, wie es alte, tattrige Männer tun, die keine Scham und keine Vernunft mehr haben? Noch bin ich nicht soweit, mein Junge!«

»Nein«, antwortete Arren, so verwirrt, daß er nichts weiter hinzufügen konnte. Er war erschöpft, der Tag war lang gewesen und voll von Drachen. Und vor ihnen breitete sich die Dunkelheit aus.

»Arren«, sagte der Magier, » — nein, Lebannen: dort wo wir hingehen, gibt es kein Versteck. Dort trägt alles seinen wahren Namen.«

»Den Toten kann man nicht mehr weh tun«, sagte Arren besorgt.

»Nicht unter den Toten allein werden Menschen bei ihrem wahren Namen gerufen. Die, die am tiefsten getroffen werden können, die am verwundbarsten sind, die Liebe gegeben und sie nicht zurückgenommen haben, die nennen sich auch bei ihren wahren Namen; all die, die treue Herzen haben, die Liebe schenken… Du bist ganz erschöpft, Junge. Leg dich hin und schlafe! Jetzt gibt es nichts mehr zu tun, nur der Kurs muß die ganze Nacht eingehalten werden. Und morgen früh werden wir die letzte Insel der Welt sehen.«