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In seiner Stimme lag wohltuende Wärme. Arren rollte sich im Bug zusammen, und der Schlaf überkam ihn sofort. Er hörte noch, wie der Magier einen leisen, fast flüsternden Gesang anstimmte, nicht in Hardisch, sondern in der Ursprache, und als er endlich verstand, was die Worte bedeuteten, gerade an der Schwelle des Verstehens, schlief er ein.

Der Magier verstaute das Brot und den Fisch, sah nach dem Segel, überprüfte alles im Boot. Dann nahm er die Segelleine in die Hand und setzte sich auf die hintere Ruderbank. Er rief einen kräftigen magischen Wind herbei, der das Segel prall füllte, und die Weitblick flog pfeilschnell über das Meer.

Er blickte auf Arren. Das Licht der Abendsonne lag rotgolden auf dem Gesicht des schlafenden Knaben. Das dichte Haar war vom Wind zerzaust. Der weiche, unbeschwerte, etwas hochmütige Ausdruck im Gesicht des Jungen, der vor ein paar Monaten im Brunnenhof des Großhauses vor dem Erzmagier gesessen hatte, war verschwunden; das Gesicht vor ihm war schmaler, härter und viel ausdrucksvoller geworden. Aber es war nicht minder schön.

»Ich habe keinen gefunden, der mir auf meinem Wege folgen wird«, sprach der Erzmagier Ged laut zu dem schlafenden Jungen oder in den leeren Wind hinein. »Keinen außer dir. Und du mußt deinen eigenen Weg gehen, nicht den meinen. Doch dein Königtum, das wird man mir zum Teil verdanken. Denn ich erkannte dich als Erster, ich erkannte dich! Und man wird mich später für diese Tat mehr rühmen als für jede andere, die ich mit Hilfe meiner magischen Kraft vollbracht habe — wenn es ein Später geben wird. Denn zuerst müssen wir dorthin gehen, wo sich das Gleichgewicht der Welt die Waage hält, auf dem Zünglein selbst müssen wir stehen. Und wenn ich stürze, so wirst auch du untergehen, und mit dir der Rest — eine Zeitlang, eine Zeitlang. Kein Dunkel dauert ewig. Und selbst dort, selbst dort scheinen Sterne … Doch, oh, wie gerne würde ich dich gekrönt in Havnor sehen, das Licht der Sonne hell auf dem Turm des Schwertes und auf dem Ring, den wir, Tenar und ich, aus den finsteren Gräbern von Atuan zurückgebracht haben, noch bevor du geboren wurdest.«

Er lachte kurz auf und wandte sein Gesicht nach Norden, und zu sich selbst im vertrauten Dialekt sprechend sagte er: »Ein Ziegenhirte will den Erben Morreds auf seinen Thron erheben! Werde ich denn nie auslernen?«

Nach einer Weile, während er mit dem Segeltau in der Hand da saß und das pralle Segel, rötlich leuchtend im untergehenden Sonnenlicht, betrachtete, sprach er leise: »Weder nach Havnor noch nach Rok zieht es mich zurück. Es wird Zeit, daß ich mein Streben nach Macht aufgebe, daß ich die alten Spiele hinter mir lasse und weitergehe. Es wird Zeit, daß ich heimgehe. Ich würde Tenar wiedersehen, und Ogion, und noch mit ihm reden können, bevor er stirbt, dort in dem Haus auf dem Felsen von Re Albi. Ich sehne mich danach, wieder auf dem Berg zu wandern, in den Wäldern auf dem Berge Gont, im Herbst, wenn die Blätter bunt sind. Kein Königreich kommt diesen Wäldern gleich. Es wird Zeit, daß ich dorthin zurückkehre, schweigend und allein. Und vielleicht werde ich dort das lernen, was mich keine Tat, keine Kunst und keine Macht lehren konnte, das, was ich nie gelernt habe.«

Im Westen glühte es noch einmal auf in einer letzten, lodernden, wildschönen Pracht. Das Meer lag dunkelrot vor ihm, das Segel über ihm war so rot wie Blut. Dann kam auf leisen Sohlen die Nacht. Und die ganze Nacht hindurch schlief der Knabe, während der Mann wachte und aufmerksam nach vorne in das Dunkel spähte. Kein Stern schien am Himmel.

SELIDOR

Als Arren früh am Morgen aufwachte, erblickte er im Westen die blaue Küste Selidors, die lang und flachgestreckt in der Ferne vor ihnen lag.

Im großen Saal zu Berila hingen alte Karten, die von der Zeit herrührten, als es noch Könige gab und Handelsschiffe und Forschungsexpeditionen von den Innenländern hinaus in die äußersten Bereiche segelten. Ein großes Mosaik, das sich über zwei Wände erstreckte und eine Karte des Ostens und des Westens darstellte, zierte den Thronsaal. Die Insel Enlad, in Grau und Gold ausgelegt, befand sich direkt über dem Thron. Die Karte, die er so oft in seiner Jugend betrachtet hatte, breitete sich jetzt vor seinem geistigen Auge aus. Im Norden von Enlad lag Osskil und westlich davon Ebosskil; im Süden lagen Semel und Paln. Diese vier stellten die Grenzen der Innenländer dar, dahinter erstreckte sich das helle Blaugrün einer leeren See, in die ab und zu ein winziger springender Delphin oder ein größerer Walfisch eingelassen war. Die See war leer bis zu der Ecke, wo die Nord-und Westwand zusammentrafen. Auf der westlichen Wand, gleich neben der Ecke, lag Narveduen und dahinter drei kleinere Inseln. Dann sah man wieder nichts als leere See, die sich über die ganze Wand erstreckte, bis man auf diese letzte Insel, Selidor, stieß, und dahinter hörte alles auf.

Die Umrisse dieser letzten Insel lagen in allen Einzelheiten vor seinem geistigen Auge: lang und leicht geschwungen umschloß sie eine große Bucht direkt in der Mitte, die eine schmale Ein- und Ausfahrt zu der offenen See im Osten hatte. Sie waren nicht weit genug nach Norden gesegelt, um diesen schmalen Eingang in die Bucht zu sehen. Sie näherten sich der Insel von Süden her und steuerten auf eine kleine, tiefe Bucht am südlichsten Vorgebirge zu und hier, während die Sonne vom Dunst des Morgens noch bedeckt, niedrig am Himmel stand, gingen sie an Land.

Sie hatten das Ende ihrer großen Fahrt von den Straßen von Balatran bis zu der westlichsten aller Inseln erreicht. Die Ruhe des Landes war ihnen ungewohnt, als sie — nachdem die Weitblick hoch aufs Ufer gezogen worden war — nach so langer Zeit endlich wieder auf festem Boden standen.

Ged kletterte eine langgestreckte Düne hinauf, die mit Gras bewachsen war, und deren oberster Rand, von zähen Graswurzeln festgehalten, sich über einen steilen Abgrund wölbte. Als er oben angekommen war, ließ er seinen Blick weit über Norden und Westen schweifen. Arren war noch beim Boot und zog seine Schuhe an, die er so lange nicht getragen hatte. Er nahm auch sein Schwert aus der Gerätekiste und gürtete es. Dieses Mal stiegen keine Zweifel in ihm auf, ob er das Rechte tat. Dann kletterte er hinauf zu Ged und blickte ebenfalls über das Land.

Die Dünen erstreckten sich ungefähr eine halbe Meile weit gegen das Landinnere, dann folgten Lagunen, mit Schilfrohr und Binsen dicht bestanden, und dahinter erhoben sich niedrige Hügel, die sich gelbbraun und kahl in der Ferne verloren. Selidor besaß seine eigene wilde und einsame Schönheit. Nirgends sah man die Spuren menschlicher Existenz. Kein Tier ließ sich blicken, die mit Schilf gefüllten Seen bargen keinen Vogel, keiner Wildente und keiner Möwe Schrei zerriß die Luft.

Sie gingen die Düne hinab. Der Sandhügel erstickte das Geräusch der Brandung und hielt den Wind ab. Plötzlich umgab sie Stille.

Zwischen der ersten und der nächsten Düne war ein kleines Tal, mit reinem Sand bedeckt und vom Wind geschützt; die Mittagssonne lag wärmend auf dem westlichen Hang. »Lebannen«, sagte der Magier, er nannte ihn jetzt bei seinem wahren Namen, »ich konnte heute nacht nicht schlafen, doch jetzt muß ich es nachholen. Bleib hier und wache!« Er legte sich in die Sonne, denn im Schatten war es zu kühl, hob seinen Arm schützend vor die Augen, seufzte tief und schlief ein.

Arren ließ sich neben ihm nieder. Er sah nur die weißen Hügel des kleinen Tales und auf den Rändern der Dünen das kurze Gras, das sich vor einem milchigblauen Morgenhimmel bewegte, im dem die gelbe Sonne stand. Kein Laut, nur das gedämpfte Murmeln der Brandung und ab und zu das schwache Raunen des vom Wind bewegten Grases ließ sich vernehmen.

Arren sah hoch oben etwas fliegen, das wie ein Adler aussah, doch kein Adler war. Der Vogel kreiste, dann stieß er herab und kam mit donnerndem Getöse und einem schrillen Pfeifen seiner ausgestreckten goldenen Flügel direkt auf ihn zu. Er ließ sich, mit gestreckten Klauen, auf dem Rand der Düne nieder. Der riesige Kopf hob sich schwarz und feurigglitzernd vor der Sonne ab. Der Drache kroch etwas näher, den Hang herunter, und sprach: »Agni Lebannen!«