Sie wanderten den ganzen Tag hindurch, und gegen Abend schlugen sie ihr Lager in der Nähe eines Baches auf, der hinunter zu den mit Schilfrohr dicht bestandenen Seen und Sümpfen eilte. Obwohl es Hochsommer war, blies ein scharfer, kalter Wind über die endlose, landlose Wasserfläche, die sich westlich von der Insel erstreckte. Ein Nebel verdeckte den Himmel, und keine Sterne gingen hinter den Hügeln auf, die nie ein Herdfeuer oder das Licht von Fenstern gesehen hatten.
Arren wachte in der Dunkelheit auf. Ihr kleines Feuer war erloschen, doch im Westen stand der Mond und warf ein graues, nebliges Licht übers Land. Auf den Hügeln jenseits des Baches stand eine Menschenmenge, still, unbeweglich, ihre Gesichter gegen Ged und Arren gewandt. Kein Licht des Mondes spiegelte sich in ihren Augen.
Arren wagte nicht zu sprechen, doch er legte seine Hand auf Geds Arm. Der Magier bewegte sich und setzte sich auf. »Was ist los?« fragte er. Er folgte Arrens Blick und sah die stummen Gestalten.
Sie trugen, ob Mann oder Frau, die gleichen dunklen Gewänder. Ihre Gesichter waren in dem Ungewissen Licht nur undeutlich und verschwommen zu erkennen, doch kam es Arren vor, als seien unter denen, die ihm am nächsten standen, einige, die er kannte. Doch er konnte sich ihrer Namen nicht erinnern.
Ged stand auf. Der Umhang fiel von seinen Schultern. Sein Gesicht, sein Haar und sein Hemd schienen silberweiß, als ob das Licht des Mondes sich auf ihm gesammelt hätte. Er breitete die Arme zu einer weitausholenden Geste aus und sprach laut: »Oh ihr alle, die ihr gelebt habt, geht und seid frei! Ich breche die Bande, die euch halten: Anvassa mane harw pennodathe!«
Die Menschenmenge blieb noch einen Augenblick lang unbeweglich stehen. Dann wandten sie sich langsam um, gingen in das graue Dunkel hinein und waren verschwunden.
Ged ließ sich nieder. Er atmete auf. Er blickte Arren an und legte die Hand auf die Schulter des Knaben; sie fühlte sich warm und fest an. »Da gibt es nichts zu fürchten, Lebannen«, sagte er, und leicht die Achseln zuckend fügte er hinzu: »Das waren ja nur Tote.«
Arren nickte, aber seine Zähne klapperten, die Kälte war ihm bis ins Mark gedrungen. »Wie …«, begann er, aber Lippen und Kinn gehorchten seinem Willen nicht.
Ged verstand ihn. »Sie kamen auf seinen Befehl. Das ist es, was er ihnen verspricht: Leben. Und es mag sein, daß sie, seinem Befehl gehorchend, wieder erscheinen werden. Wenn er gebietet, müssen sie auf den Hügeln des Lebens wandern, obgleich sie nicht vermögen, auch nur den geringsten Grashalm unter ihren Füßen zu bewegen.«
»Ist er … ist er denn auch tot?«
Ged schüttelte nachdrücklich den Kopf. »Die Toten können den Toten nicht gebieten, ins Leben zurückzukehren. Nein, er besitzt die Macht eines lebendigen Menschen, noch mehr … Doch wer geglaubt hat, ihm folgen zu können, der hat den Kürzeren gezogen. Er behält seine Macht für sich allein. Er spielt den König unter den Toten, und nicht nur unter den Toten… Doch das hier waren nur Schatten.«
»Ich weiß nicht, warum ich mich so vor ihnen gefürchtet habe«, sagte Arren beschämt.
»Du fürchtest sie, weil du den Tod fürchtest, und das tust du mit Recht: denn der Tod ist furchtbar und muß gefürchtet werden«, sagte der Magier. Er legte neues Holz auf und blies auf die Kohlen, die unter der Asche verborgen lagen. Eine kleine Flamme sprang aus den Zweigen des Reisigs empor, und Arren war dankbar für das Licht. »Und das Leben ist auch furchtbar«, sagte Ged, »und es muß gefürchtet und gepriesen werden.«
Beide lehnten sich zurück und zogen ihre Umhänge enger um sich. Sie schwiegen beide. Dann sprach Ged, und seine Stimme war ernst: »Lebannen, ich weiß nicht, wie lange er uns hier mit seiner Erscheinung und mit den Schatten narren wird. Doch du weißt, wohin er letzten Endes gehen wird.«
»In das Land des ewigen Dunkels.«
»Ja, zu ihnen.«
»Ich habe sie jetzt gesehen. Ich werde mit Ihnen gehen.«
»Ist es der Glaube an mich, der dich bewegt? Du kannst meiner Liebe gewiß sein, doch verlaß dich nicht auf meine Stärke. Ich glaube, mein Gegner ist mir gewachsen.«
»Ich werde mit Ihnen gehen.«
Darauf erwiderte Ged: »Du wirst zum Mann an den Toren des Todes.« Und danach wiederholte er das Wort oder den Namen, mit dem der Drache ihn zweimal angeredet hatte; er sagte ihn ganz leise: »Agni — Agni Lebannen.«
Sie sprachen nicht weiter miteinander, und nach einer Weile kehrte der Schlaf zurück, und sie legten sich neben das kleine, schnell niederbrennende Feuer nieder.
Am nächsten Morgen marschierten sie in nordwestlicher Richtung weiter landeinwärts. Dies war Arrens Entschluß gewesen, nicht der Geds, der gesagt hatte: »Wähle du den Weg, Junge, jeder Weg ist mir recht.« Sie beeilten sich nicht, denn sie hatten kein Ziel, sie warteten auf ein Lebenszeichen von Orm Embar. Sie folgten der niedrigsten, am weitesten vorgelagerten Hügelkette, in Sichtweite des Ozeans. Das Gras war trocken und kurzhalmig und bewegte sich unaufhörlich im Wind. Die Hügel reckten sich goldfarben rechts von ihnen empor. Links lagen die sumpfigen, salzigen Marsche der Küste und dahinter das Meer des Westens. Einmal erspähten sie, ganz weit im Süden, Schwäne. Doch sonst sahen sie keine lebendige Kreatur. Das Warten, das ziellose Wandern, das Bevorstehende, Schwere, nagten an Arren. Die Ungeduld wurde zur dumpfen Wut, und nach stundenlangem Schweigen rief er aus: »Das Land hier ist so tot wie der Tod selbst!«
»Sag das nicht!« unterbrach ihn der Magier erschrocken. Er schritt weiter voran, dann fügte er, mit veränderter Stimme, hinzu: »Schau dir das Land an! Schau dich um! Das ist dein Königreich, das Königreich des Lebens. Das hier ist deine Unsterblichkeit. Schau auf die Hügel, die sterblichen Hügel! Sie bestehen nicht in alle Ewigkeit. Die Hügel sind bedeckt mit Gras, das wächst und Nahrung zu sich nimmt, der Bach ist gefüllt mit sprudelndem Wasser … Auf der ganzen Welt, in all den Welten, in all den Zeiten gibt es keinen Bach, der einem dieser Bäche hier gleicht, die kalt aus dem verborgenen Schoß der Erde quellen, die im Licht der Sonne und in der Dunkelheit dem Meer zueilen. Tief sind die Quellen des Seins, tiefer als das Leben, tiefer als der Tod …«
Er hielt inne, doch in seinen Augen, die auf Arren und auf den sonnigen Hügeln ruhten, lag eine tiefe, wortlose, schmerzvolle Liebe. Und Arren erkannte dies, und als er es wahrnahm, sah er Ged zum erstenmal ganz so, wie er wirklich war.
»Ich finde nicht die Worte, um das auszudrücken, was ich meine«, sagte Ged unglücklich.
Doch Arren erinnerte sich an die erste Stunde im Brunnenhof, an den Mann, der am plätschernden Brunnen gekniet hatte und eine Freude, so klar wie das Wasser damals, wallte in ihm auf. Er schaute seinem Gefährten in die Augen und sagte: »Ich habe meine Liebe dem gegeben, der wert ist, sie zu besitzen. Ist das nicht das Königreich und die nie versiegende Quelle?«
»Doch, mein Junge«, sagte Ged voll Liebe und voll Schmerz.
Sie schritten schweigend weiter ihres Weges. Doch Arren sah die Welt jetzt mit den Augen seines Gefährten an, er sah die Pracht des Lebens, die sich um sie herum in diesem schweigenden, öden Land mit einer Zaubermacht, größer als jeder anderen, in jedem Halm windbewegten Grases, in jedem Schatten, jedem Stein offenbarte. Wie einer, der, auf Nimmerwiedersehen verreisend, zum letztenmal einen geliebten Ort erschaut, ihn voll und ganz und deutlich vor sich liegen sieht, wie er ihn nie zuvor geschaut hat und nie mehr schauen wird.
Zur Abendzeit erhoben sich dichtgedrängte Wolkenbänke im Westen, von den mächtigen Winden des Meeres getragen, feurig im Licht der Sonne, die rot unter dem Horizont versank. Als Arren in einem Flußtal Reisig für ihr abendliches Feuer sammelte, sah er, aufblickend, nur einige Meter weit entfernt, einen Mann in diesem roten Licht stehen. Das Gesicht des Mannes war seltsam und fremd, doch Arren erkannte ihn: es war Sopli, der Färber von Lorbanery, der tot war.