Und so verschied Orm Embar, am selben Ort, an dem sein Vorfahre Orm gefallen war, auf dem Sand, unter dem die Gebeine Orms begraben lagen.
Doch an der Stelle, wo Orm Embar seinen Feind erschlagen hatte, lag ein Scheusal, klein, ausgedörrt, wie eine Riesenspinne, die in ihrem Netz vertrocknet war. Das Ding, das da im Sande lag, war vom Atem des Drachen verbrannt, von der Wucht seiner Krallen zerschmettert worden. Doch Arren sah, wie es sich bewegte: Langsam kroch es weg von dem toten Drachen.
Ein Gesicht erhob sich vom Sande und wandte sich ihnen zu. Keine Spur der männlichen Schönheit war verblieben, zerstört, zerfallen, ein Alter zeigend, das alles Altsein überlebt hatte. Der Mund war verschwunden, die Augenhöhlen waren schon lange leer. Ged und Arren blickten endlich in das wahre Gesicht ihres Feindes.
Es wandte sich um. Die verbrannten schwarzen Arme streckten sich weit und schienen die schwarzen Schatten zu umfassen, die gleichen formlosen, immer dunkler werdenden Schatten, die das Sonnenlicht getrübt hatten. Zwischen den Armen dieses Wesens, dem Urfeind allen Schöpfens, allen Erschaffens, tat sich so etwas wie ein Tor auf, doch war auch dieses formlos und undeutlich. Dahinter lag weder der bleiche Sand noch das Meer, sondern ein langer, sich neigender Hang, der hinunter in ein grundloses Dunkel führte.
Dorthin schlich sich die zerschundene, mühsam kriechende Kreatur, doch als sie das Dunkel betrat, schien sie plötzlich zu schwellen und zu wachsen, sie bewegte sich schneller und verschwand.
»Komm, Lebannen!« sagte Ged und legte seine Rechte auf des Knaben Arm, und gemeinsam wandten sie sich ab von dem Ort und betraten das trockene Land.
DAS TROCKENE LAND
Ein silberweisses Licht ging von dem Erlenstab in des Magiers Hand aus, als sie die dumpfe, immer dichter werdende Düsternis betraten. Ein schwach schimmerndes weißes Licht zog Arrens Blick auf sich; entlang der entblößten Schwertklinge, die er in der Hand trug, zog sich ein schmaler Lichtstreif. Als der Drache am Strand von Selidor durch seine Tat und seinen Tod den Bann brach, mit dem das Schwert belegt gewesen war, hatte es Arren sofort aus seiner Scheide gezogen. Und jetzt, obwohl er hier nur als ein Schatten wanderte, trug er den Schatten seines Schwertes in der Hand.
Kein anderes Licht war sonst zu sehen. Alles war trüb, wie eine späte Dämmerung im November, unter einem mit Wolken verhangenen Himmel. Eine bedrückende, kalte, unbewegliche Luft, in der man zwar sehen konnte, doch nur begrenzt und undeutlich, umgab sie. Arren kannte den Ort: es war das Moor, die öde Landschaft seiner hoffnungslosen Träume, doch kam es ihm jetzt vor, als befände er sich viel weiter darin als er je in seinen Träumen gewesen war. Er konnte nichts klar erkennen, außer daß er und sein Gefährte am Abhang eines Hügels standen, und daß sich vor ihnen eine niedere, aus Stein erbaute Mauer hinzog.
Geds Hand lag noch auf Arrens Arm. Er schritt immer noch voran, und Arren ging mit ihm. Sie überstiegen die Steinmauer.
Vor ihnen lag der Hang; seine Umrisse waren verschwommen; er neigte sich gegen ein Ungewisses Dunkel.
Doch über ihnen, wo Arren eine dichte Wolkendecke vermutet hatte, erstreckte sich nun ein tief schwarzer Himmel mit Sternen. Er blickte auf, und es war ihm, als zöge sich sein Herz ganz kalt und klein in seiner Brust zusammen. Solche Sterne hatte er noch nie gesehen. Sie standen zwar an einem Himmel, doch kein Glanz ging von ihnen aus; sie standen unbeweglich, sie kannten weder Auf- noch Untergang, und keine Morgenröte ließ sie je verblassen. Starr und stumm blickten sie herab auf das trockene Land.
Ged begann, auf der Seite jenseits des Lebens hinabzusteigen, Arren folgte ihm. Entsetzen war in ihm, doch sein Herz war entschlossen und sein Wille so fest, daß die Furcht keine Macht über ihn gewinnen konnte, er war sich ihrer gar nicht klar bewußt. Er fühlte nur, wie etwas tief in seinem Innern litt, wie ein Tier, das in einem verschlossenen Raum angekettet war.
Es kam ihm vor, als wären sie schon ein großes Stück den Abhang hinuntergegangen, doch vielleicht war es nur ein kurzes Stück, die Zeit stand still hier; kein Wind blies, und die Sterne rührten sich nicht. Sie betraten jetzt eine der Städte, die es dort gibt, und Arren sah die Häuser, deren Fenster nie erleuchtet waren, und unter manchen Türen standen, mit ruhigen Gesichtern und mit leeren Händen, tote Menschen.
Die Marktplätze waren alle leer. Hier wurde nichts gekauft oder verkauft, nichts gewonnen und nichts verloren. Nichts wurde benötigt und nichts wurde gemacht. Ged und Arren waren die einzigen, die durch die schmalen Gassen schritten, obgleich sie ab und zu eine Gestalt um eine Ecke huschen sahen, weit vorne und kaum sichtbar in der Trübnis. Als Arren zum erstenmal die Gestalt wahrnahm, schreckte er auf und deutete mit seinem Schwert darauf, doch Ged schüttelte den Kopf und ging weiter. Arren sah schließlich, daß es die Gestalt einer Frau war, die sich langsam bewegte und die nicht vor ihnen floh.
All diejenigen, die sie sahen — es waren nicht viele, denn obgleich es viele Tote gibt, so ist das Land so riesig, daß sie sich darin verlieren — standen still oder bewegten sich langsam, gleichmütig, ohne Ziel. Keiner trug Wunden wie die Erscheinung von Erreth-Akbe, der gezwungen worden war, am Ort seines Todes ins Tageslicht hinauszutreten. Keiner trug die Zeichen einer Krankheit. Sie waren alle geheilt vom Schmerz und von dem Leben. Sie waren nicht abstoßend, wie Arren es befürchtet, nicht furchterregend, wie er es erwartet hatte. Ihre Gesichter waren ruhig, sie waren frei von den Lasten und Lüsten des Lebens, ihre umschatteten Augen bargen keine Hoffnung mehr.
Und so kam es, daß Arren anstelle der Furcht nur großes Mitleid für sie empfand, und wenn das Mitleid auch der Furcht entsprungen sein mag, so fürchtete er nicht um sich selbst, sondern um alle Menschen. Denn er sah die Mutter und das Kind, die zur gleichen Zeit gestorben und im dunklen Land beisammen waren, doch das Kind rannte nicht herum und weinte nicht, und die Mutter hielt es nicht in ihren Armen und schaute es nicht an. Und die, die um der gemeinsamen Liebe willen gestorben waren, begegneten sich still auf der Straße und setzten gleichgültig ihren Weg fort.
Die Scheibe des Töpfers stand still, der Webrahmen war leer, der Herd kalt. Keine Stimmen erhoben sich zum Gesang.
Die dunklen Straßen zwischen den dunklen Häusern schienen kein Ende zu nehmen, sie schritten immer weiter. Der Tritt ihrer Füße war das einzige Geräusch. Und es war kalt. Am Anfang hatte Arren die Kälte nicht wahrgenommen, doch jetzt spürte er, wie sie in seinen Geist, der ihm hier Körper war, eindrang. Er fühlte, wie große Müdigkeit ihn überfiel. Der Weg, den sie zurückgelegt hatten, mußte lang gewesen sein. Warum noch weitergehen? fragte er sich, und seine Schritte verlangsamten sich.
Ged blieb plötzlich stehen und wandte sich einem Mann zu, der an einer Kreuzung stand. Er war schlank und groß, und es kam Arren vor, als hätte er das Gesicht schon einmal gesehen, doch er konnte sich nicht mehr erinnern, wo das gewesen war. Ged sprach ihn an. Keine Stimme hatte — seit sie die Steinmauer überquerten — die Stille dieses Landes unterbrochen. »O Thorion, mein Freund, dich finde ich hier?«
Und er streckte dem Gebieter von Rok seine Hände entgegen.
Thorion erwiderte die Geste nicht. Er stand still und stumm, und sein Gesicht war unbeweglich, doch das silberne Licht von Geds Stab fand einen zaghaften Widerschein in den umschatteten Augen. Ged ergriff die Hand, die ihm nicht entgegengestreckt wurde, und sprach: »Was suchst du hier, Thorion? Du gehörst noch nicht in dieses Königreich. Kehre um!«
»Ich folgte dem Unsterblichen. Ich habe meinen Weg verloren.« Die Stimme des Gebieters war leise und teilnahmslos, wie die Stimme eines Menschen, der im Schlaf redet.