»Sperber, Sie konnten schon immer das Dunkle fühlen«, sagte der Pförtner. »Schon immer! Sagen Sie uns jetzt, daß Ihre Ahnungen nicht zutreffen!«
»Das kann ich nicht. Die Macht, ich fühle es, ist nicht mehr so stark. Die Kraft, Entschlüsse zu fassen, ist geschwächt. Die Sonne selbst scheint nicht mehr so stark. Es ist mir, meine Herren — es ist mir, als wären wir, die wir hier sitzen und reden, tödlich verletzt, und während wir reden und reden, fließt das Blut langsam aus unseren Adern…«
»Und Sie würden etwas unternehmen? Sie würden handeln?«
»Ja, ich würde handeln«, sagte der Erzmagier.
»Nun ja«, der Pförtner nickte. »Können Eulen den Falken am Fliegen hindern?«
»Doch wohin wollen Sie sich wenden?« fragte der Meister der Verwandlungen, und Meister Sänger antwortete: »Er sucht den König und er führt ihn auf seinen Thron.«
Der Erzmagier blickte ihn durchdringend an, doch er sagte nur: »Ich werde mich dorthin wenden, wo das Übel sitzt.«
»Gegen Süden oder Westen«, sagte der Meister Windschlüssel.
»Gegen Norden oder Osten, wenn es sein muß«, fügte der Pförtner hinzu.
»Doch Sie werden hier gebraucht«, sagte der Meister der Verwandlungen. »Anstatt sich blind auf eine Suche unter unfreundliche Völker zu begeben und fremde Meere zu befahren, wäre es nicht weiser, hierzubleiben, wo die Magie stark ist, und durch Zauberkraft allein herauszufinden, was es mit diesem Übel, dieser Störung auf sich hat?«
»Meine Kunst hilft mir nicht weiter«, sagte der Erzmagier. Ein Ton lag in seiner Stimme, der alle aufhorchen ließ, und sie blickten ihn fragend an. »Ich bin der Hüter von Rok. Ich verlasse Rok nicht leichten Herzens. Ich wünschte, daß Euer Rat und mein eigner übereinstimmten. Doch darauf kann ich jetzt nicht hoffen. Der Entschluß liegt bei mir: ich muß gehen.«
»Wir beugen uns diesem Entschluß«, sagte der Meister des Gebietens.
»Und ich gehe allein. Das Konzil von Rok besteht aus Ihnen, meine Herren, und das Konzil muß vollständig bleiben. Doch einen nehme ich mit, wenn er kommen will.« Er blickte auf Arren. »Gestern hast du mir deinen Dienst angeboten. Gestern abend sagte der Meister der Formgebung: ›Der Zufall führt keinen Menschen nach Rok. Der Zufall ist es nicht, der Morreds Sohn mit dieser Botschaft hierherbringt.‹ Er sprach kein anderes Wort mehr zu uns, den ganzen Abend lang. Und nun frage ich dich, Arren: willst du mit mir kommen?«
»Ja, mein Gebieter«, sprach Arren, und seine Kehle war trocken.
»Der Prinz, Ihr Vater, würde Sie gewiß nicht in diese Gefahr ziehen lassen«, sagte der Meister der Verwandlungen ziemlich scharf und wandte sich dann zum Erzmagier: »Der Knabe ist noch jung und in der Zauberkunst ganz unbewandert.«
»Ich habe Jahre und Formeln genug für uns beide«, antwortete der Erzmagier trocken. »Arren, was würde dein Vater dazu sagen?«
»Er würde mich ziehen lassen.«
»Woher wissen Sie das?« fragte der Meister des Gebietens.
Arren wußte nicht, wohin die Reise gehen würde, noch wann sie starten würde, noch warum er mitgehen sollte. Diese ernsten, aufrechten, gestrengen Männer verwirrten und verschüchterten ihn. Hätte er Zeit zum Überlegen gehabt, so hätte er wahrscheinlich gar nichts gesagt. Aber er hatte keine Zeit, und der Erzmagier hatte ihn gefragt: »Willst du mit mir kommen?«
»Als mich mein Vater hierher sandte, sagte er zu mir, ›Ich fürchte, daß eine dunkle Zeit in dieser Welt anbricht, eine gefährliche Zeit. Aus diesem Grunde schicke ich dich, anstelle eines anderen Boten, denn du kannst beurteilen, ob wir um die Hilfe der Insel der Weisen ansuchen, oder ob wir ihnen die Hilfe von Enlad anbieten sollen. ‹ Wenn ich also gebraucht werde, so stehe ich Ihnen zur Verfügung.«
Als er dies sagte, sah er den Erzmagier lächeln; es war ein kurzes Lächeln, doch eine tiefe Wärme lag darin. »Seht ihr wohl?« wandte der sich zu den sieben Magiern. »Könnten Alter oder Zauberkunst diese Worte verbessern?«
Arren hatte das Gefühl, daß sie ihn jetzt etwas wohlgefälliger musterten, doch sie waren noch immer am Wägen und Überlegen.
Der Meister des Gebietens sprach jetzt, und seine mißmutig zusammengezogenen Brauen bildeten eine waagerechte Linie auf seiner Stirn. »Ich kann es nicht begreifen, Erzmagier! Daß Sie gehen wollen — nun ja, fünf Jahre waren Sie hier eingesperrt! Doch bisher gingen Sie immer allein. Warum nun plötzlich in Begleitung?«
»Bis jetzt brauchte ich nie Hilfe«, sagte Sperber, und in seiner Stimme lag ein drohender oder ironischer Unterton. »Und ich habe einen passenden Gefährten gefunden.« Etwas Gefährliches ging von ihm aus, und der Meister des Gebietens stellte keine weiteren Fragen mehr, doch seine Stirn blieb gerunzelt.
Der Kräutermeister, ein dunkler Mann mit ruhigem Blick, der wie ein weiser und geduldiger Ochse aussah, erhob sich von seinem Sitz und stand wuchtig auf. »Gehen Sie«, sagte er, »und nehmen Sie den Jungen mit. Sie haben unser volles Vertrauen!«
Einer nach dem ändern gab seine Zustimmung, und einzeln oder in Paaren verließen sie den Raum, bis von den sieben nur noch der Meister des Gebietens blieb. »Sperber«, sagte er, »ich will Ihren Entschluß nicht in Frage stellen. Doch das muß ich Ihnen sagen: Wenn Sie recht haben, und das Gleichgewicht gestört ist, wenn Unheil diese Welt bedroht. Dann wird eine Reise nach Wathort, in den Westbereich, ja selbst ans Ende dieser Welt nicht weit genug sein. Dort, wo Sie hingehen müssen, können Sie Ihren Gefährten dorthin mitnehmen? Und ist es fair, ihn dorthin mitzunehmen?«
Sie standen abseits von Arren, und der Meister sprach mit gesenkter Stimme, doch der Erzmagier antwortete offen: »Ja, es ist fair.«
»Sie sagen mir nicht alles, was Sie wissen.«
»Wenn ich etwas Sicheres wüßte, dann würde ich es sagen. Aber ich weiß nichts, doch ich ahne viel.«
»Lassen Sie mich mitkommen.«
»Einer muß hierbleiben, um die Tore zu bewachen.«
»Das tut der Pförtner.«
»Nicht nur die Tore von Rok. Bleib hier! Bleib hier und schaue, ob die Sonne hell am Morgen aufgeht und paß auf, wer über die Steinmauer kommt und in welche Richtung er blickt. Eine Bresche, ein Bruch, eine Wunde ist irgendwo entstanden, und das, Thorion, das suche ich. Wenn ich nicht wiederkehre, dann geh du, vielleicht wirst du es finden. Doch warte. Ich bitte dich, warte auf mich!« Er sprach jetzt in der Ursprache, in der Sprache des Schöpfens, in der Zauberformeln gewirkt und Handlungen der Magie vollbracht werden. Sehr selten unterhält man sich in dieser Sprache, nur unter Drachen ist sie geläufig. Der Meister des Gebietens erhob keine Einwände mehr. Er verbeugte seine hohe Gestalt vor dem Erzmagier und vor Arren und verließ den Raum.
Das Feuer prasselte im Kamin. Kein anderer Laut war zu vernehmen. Der Nebel preßte sich formlos und undurchsichtig gegen die Fenster.
Der Erzmagier starrte in die Flammen. Es schien, als habe er Arren vergessen. Der Junge stand etwas abseits am Kamin und wußte nicht, ob er gehen sollte oder warten. Unentschlossen und verloren stand er da und hatte wieder das Gefühl, nur eine winzige Gestalt in einer dunklen, grenzenlosen Weite zu sein.